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Normalerweise würde Omar an einem Tag wie heute, einem Spieltag, in sein schwarz-grünes Outfit schlüpfen. Maleek würde ihn mit seinem Roller abholen, sie würden die restlichen Hardcorefans aus der Nachbarschaft treffen und gemeinsam in Richtung Stadion ziehen, um ihren Fußballverein zu unterstützen: Raja Casablanca. Das Stadion unterliegt ihren Gesetzen – so zumindest verhalten sich die Ultras von Raja Casablanca. Denn sie sind jene Fans, die besonders leidenschaftlich und loyal hinter ihrem Team stehen. Und das wollen sie zeigen. Um jeden Preis. Ohne Rücksicht auf die Konsequenzen.
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Der zwölfmalige marokkanische Meister wird vom deutschen Josef Zinnbauer gecoacht. Gegründet wurde Raja Casablanca Ende der 1940er-Jahre von marokkanischen Nationalisten: ein Verein von Marokkanern für Marokkaner, ein Protest gegen die französischen Kolonialherren. Raja Casablanca ist traditionell der Verein der Arbeiter. Der Soziologe Abderrahim Bourkia sagt: "Wenn du in einem Arbeiterviertel geboren wirst, bekommst du zwei Dinge in die Wiege gelegt: deine Familie und Raja Casablanca." Der Erzrivale und zweite Verein der Stadt, Wydad Casablanca, habe hingegen seine Fangemeinschaft eher in der oberen Einkommensschicht.
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Im Stadion waren Omar und Maleek aber seit vier Wochen nicht mehr, zuletzt am 8. Oktober. Videos von diesem Tag zeigen die Curva Sud, jenen Teil des Stadions, in dem sich Raja-Ultras versammeln, wie die Cannstatter Kurve des VfB Stuttgart oder die Nordtribüne des Hamburger SV, eingehüllt in roten Nebel und graue Rauchschwaden. So dicht, dass die Ultras, die Feuerwerkskörper und Rauchbomben gezündet haben, nicht mehr zu erkennen sind.
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Das Zünden von Rauchbomben ist laut dem Code Disciplinaire der Königlichen Marokkanischen Fußballföderation (FRMF) verboten. Genau wie das Werfen von Gegenständen und das Aufhängen von Spruchbändern mit beleidigenden oder politischen Texten. Die Folgen des 8. Oktober: eine Geldstrafe für den Verein und Spielausschluss der Raja-Fans für die nächsten beiden Spiele der laufenden Saison. Diese Prozedur ist nicht ungewöhnlich, vielmehr ist sie das Symbol des Kräftemessens zwischen Behörden und Ultras. Dabei geht es nicht nur um den Fußball.
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Immer wieder gab es in der Vergangenheit Vandalismus und regelrechte Gewaltexzesse zwischen Ultragruppen oder Ultras und den Behörden. Der Höhepunkt der Gewalt war 2016 ein Spiel von Raja Casablanca. Dort starben nach Kämpfen rivalisierender Raja-Ultragruppen zwei Fans. Ultragruppen seien Kriminelle, so sehen das viele Marokkaner.
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Der Soziologe Abderrahim Bourkia hat die Ultras aus Casablanca erforscht und ein Buch über sie geschrieben. Er sagt: "Die Gewalt hat zwei Ursprünge." Erstens: Sie sei im Kern der Ultrakultur verankert. "Ultras wollen furchtlos und stark sein", sagt er. Und weil alle Gruppen diese Attribute für sich beanspruchen, sei ein Ziel, sich über die anderen zu erheben. Der Stärkere sein, mit allen Mitteln.
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Der zweite Ursprung der Gewalt seien gesellschaftliche Probleme. Viele der Ultras kommen aus Arbeitervierteln. Sie fühlten sich ausgeschlossen, sozial und wirtschaftlich benachteiligt. Vandalismus und Gewalt gegen Behörden seien ein Weg, Frust zu äußern. Das Stadium biete den Jugendlichen ein Ventil, die Gruppe ein Ort der Zugehörigkeit und Sozialisierung. Positiv sei, dass die Ultragruppen Werte wie die Meinungsfreiheit lehren. Doch auch die habe Grenzen, sagt er: "Ja, das Stadion ist ein Ort der Freiheit, und ja, Ultras äußern dort ihre Meinung. Aber auch sie überschreiten nicht die roten Linien, die in Marokko gelten: Die Religion und der König dürfen nicht direkt kritisiert werden. Territoriale Fragen sind tabu."
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Das Königreich Marokko scheint stabil: Hierzulande liest man vor allem vom neuen Migrationsabkommen zwischen Deutschland und Marokko und Investitionen des Staatsoberhauptes, König Mohammed VI., derden Ausbau erneuerbarer Energien fördert. Oder von den jüngsten Erfolgen der Marokkaner bei internationalen Fußballturnieren. Doch bei genauerem Hinsehen brodelt es. Die Armut im Land ist nach wie vor hoch, besonders betroffen sind Jugendliche. Dazu kommen Einschränkungen der persönlichen Freiheit. Wer in Marokko den König kritisiert, riskiert, im Gefängnis zu landen. Friedliche Proteste werden immer wieder gewaltsam unterdrückt. Auf derRangliste der Pressefreiheitbelegt Marokko unter 180 Ländern Platz 129.
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Für viele junge Marokkaner wie Omar und Maleek ist das Stadion einer der letzten Orte, an dem sie ein Gefühl der Freiheit haben, zu sagen, was sie denken. Zu sein, wer sie sind. Wo sie ihrer Wut und ihrem Frust freien Lauf lassen können. Ein Stück individuelle Freiheit unter dem Deckmantel des Kollektivs.
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Im Café in Casablanca hört man Jubel. Raja trifft in der dritten Minute. Omar und Maleek starren mit glänzenden Augen und offenen Mündern auf den Bildschirm unter der Decke. Im Stadion sehen sie vor lauter Freudenrufen, Singen und Springen oft die Tore nicht. Trotzdem würden sie gerade viel dafür geben, genau dort zu sein.
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Maleek sagt, andere seien süchtig nach Zigaretten, er sei süchtig nach dem Gefühl im Stadion. Er studiert Ingenieurwesen, Omar kämpft um seinen Schulabschluss. Als Kind träumte er davon, eines Tages bei Raja zu spielen. Weil daraus nichts wurde, sattelte er um: Wenn er schon nicht als Spieler die Liebe zu seinem Team beweisen kann, dann als Ultra.
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Mit 18 Jahren, denn Volljährigkeit ist laut dem Gründer der Green Boys eine Voraussetzung für die Mitgliedschaft, trat Omar der Ultragruppe bei. Seine Eltern waren anfangs dagegen. Ultras, das seien Kriminelle, habe sein Vater gedacht. Er befürchtete, sein Sohn könnte in Gefahr geraten oder im Gefängnis landen. Nicht ohne Grund: Immer wieder kam es in der Vergangenheit zu Gewalt im Stadion und auch außerhalb.
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Das alles ändert nichts: Die Green Boys sind jetzt Omars und Maleeks Familie. Ihre Regeln sind Gesetz. Drei davon sind Maleek besonders wichtig.
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Regel 1: Unterstütze dein Team, egal was kommt.
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"Normale Fans verlassen das Stadion oder kommen erst gar nicht, wenn ihr Team schlecht spielt", sagt Maleek. "Das würden die Green Boys niemals tun. Wir finden immer neue Wege, Raja zu unterstützen."
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Beim Derby gegen den Erzrivalen Wydad Casablanca im November 2019 hielten alle Ultras farbige Folien in die Luft. Gemeinsam formten sie einen Schriftzug, der sich über die gesamte Curva Sud erstreckte. "Room 101", stand da. Der Raum 101 ist jene Folterkammer aus George Orwells Roman "1984", in der die schlimmsten Ängste eines Häftlings wahr werden.
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Regel 2: Sei mutig, das zu sagen, was gesagt werden muss. Egal, welche Folgen das haben wird.
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Einmal, erzählt Maleek, hat die Königliche Marokkanische Fußballföderation ein Spiel von Raja Casablanca verlegt für ein Spiel eines afrikaweiten Turniers. Dass Raja aus dem eigenen Stadion verdrängt wird, stößt bitter auf. Die Ultras protestieren auf der Tribüne. "FRMF allez vous faire enculer", stand auf ihrem Tifo, wie sie ihre Transparente nennen – "FRMF fickt euch". Ein gestreckter Mittelfinger in Richtung der Organisation, die als eine der liebsten des marokkanischen Königs gilt.
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"Das Risiko ist uns egal", sagt Maleek. "Wir sagen, was wir wollen. Wenn der Chef der FRMF im Stadion ist, pfeifen wir ihn aus. Und wenn wir für ein ganzes Jahr verbannt werden." Und Omar ergänzt: "Wir sind mehr als nur Fußball, wir haben politische Botschaften." Botschaften, die sie mit ihren Gesängen lauthals verkünden; die Originaltexte sind im marokkanischen Dialekt Darija verfasst:
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Ihr habt Talente vergeudet,mit Drogen habt ihr sie gebrochen.Ihr habt das ganze Vermögen dieses Landes geraubtund es Ausländern gegeben.Ihr habt diese Generation unterdrückt.
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Damit sprechen die Ultras die prekäre Lage einer hoffnungslosen Generation an. Solche Kritik an der Macht sei außerhalb der Kurve, ohne den Schutz der Menge, nicht möglich.
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"Es gibt keine Zukunft hier", sagt Maleek. Wer etwas erreichen wolle, der müsse Marokko verlassen. "Draußen in Europa gibt es Rechte und eine Perspektive, selbst für Migranten", glaubt Omar. "In Marokko kann ich die beste Bildung genießen und muss trotzdem am Ende Taxi fahren, um über die Runden zu kommen", sagt er.
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Während die marokkanische Wirtschaft langsam wächst, liegt die Jugendarbeitslosigkeit bei über 30 Prozent. Viele junge Menschen verlassen ihre Heimat deshalb, oft in Richtung Deutschland. Für einen kurzfristigen Aufenthalt benötigen sie hierzulande ein Schengen-Visum, für ein Studium ein nationales Visum. Zum Studieren wollen viele auch nach Frankreich. Diplomatische Spannungen zwischen Paris und Rabat aber sorgten in den letzten Jahren für Verschärfungen bei der Visavergabe für Marokkaner:innen. 2022 lehnte Frankreich rund 50 Prozent aller marokkanischen Anträge ab.
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Im vergangenen Herbst verkündete die französische Regierung, dass die Beschränkungen für marokkanische Bürger:innen aufgehoben seien. Nach Berichten Betroffener soll es aber nach wie vor sehr schwer sein, an ein Visum zu kommen – unter anderem, weil es innerhalb Marokkos äußerst schwierig sei, einen Termine bei der entsprechenden Behörden zu erhalten: Medien berichten über nicht autorisierte "Zwischenhändler", die, zum Teil mit Hilfe von Bots, von der offiziellen Vergabestelle freigeschaltete Termine blockieren und dann teuer weiterverkaufen.
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Omar möchte nach Toulouse, dort studieren und arbeiten. Die Idee kam von seinen Eltern. Sollte er den Schulabschluss schaffen, würden sie ihm das Studium dort finanzieren, das ist der Deal. Es ist Omars dritter Versuch, das marokkanische Abitur zu bestehen. Omar sagt, er fühle sich von seiner Familie unter Druck gesetzt. Er hat Angst, sie zu verärgern, am schlimmsten wäre die Enttäuschung seiner Mutter. Letztes Jahr hat ein Verwandter, der ein Jahr jünger ist, den Abschluss gemacht. Seitdem sage sie ihm: "Sieh ihn dir an, er ist nach dir geboren und hat es geschafft."
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Maleek träumt von einem Leben in Deutschland. Mit dem Geld, das er dort verdienen könne, würde er seine Familie daheim unterstützen. Dieser Gedanke treibt ihn an. Auch wenn die Vorstellung, von zu Hause wegzugehen, schmerzt.
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"Wir lieben unser Land", sagt Omar. Wenn es nach ihm ginge, würde er sein Land nur als Tourist verlassen. Trotzdem würden fast alle jungen Menschen gehen wollen, auch viele ihrer Freunde bei den Green Boys. Im Fußball-Café in Casablanca hat Omar nach 60 Minuten Spielzeit seinen Rucksack noch immer nicht abgezogen. Er wird ihn auch das restliche Spiel aufbehalten, als wolle er bereit sein, jederzeit aufzubrechen.
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Regel 3: Brüderlichkeit!
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Betritt ein Green Boy die Tribüne, weiß er, wo er hingehört. Er kennt seinen Platz, an dem er Woche für Woche steht, weiß, welchen Text er singen muss, welchen Teil eines Bildes er formt und wer vor, hinter oder neben ihm steht. Auf der Straße erkennt er seine Mitstreiter mit einem Handzeichen. Omar und Maleek machen es vor: Sie ballen die Hand zur Faust und spreizen Daumen und Zeigefinger ab.
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Am Tag seines Beitritts schärfte der Verantwortliche der Zone C – die Green Boys organisieren sich in Zonen – Omar Folgendes ein: "Du musst organisiert und diszipliniert sein, wir müssen uns auf dich verlassen können. Du sollst gutes Benehmen an den Tag legen und keine Drogen nehmen." Omar hält sich daran, sagt er. Andere nicht so sehr. Wer zu oft Mist baut, fliegt raus und verliert damit den begehrten Platz im Schoße der Ultragemeinschaft. Wer eine Frau ist, darf laut den Green Boys übrigens gar nicht erst mitmachen. Tatsächlich erspäht man im ganzen Stadion, neben Tausenden Männern, nur eine Handvoll Frauen.
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Mittlerweile seien Omars Eltern entspannter, was die Green Boys angeht. Er habe sie überzeugt, indem er nach den Treffen oder Stadionbesuchen pünktlich wieder zu Hause war. Zum Glück. "Wirklich frei fühle ich mich nur im Stadion und in der Moschee", sagt er. "Und mit meinen Eltern", fügt er nach einigen Augenblicken pflichtbewusst hinzu.
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Wenig später spielt Raja Casablanca gegen Jeunesse Sportive Soualem. Das Spiel findet in einem kleineren Stadion in Mohammedia statt, 25 Kilometer von Casablanca entfernt. Tausende junge Männer füllen die Ränge, sie stehen auf den ungesicherten Mauern des Stadions und auf den Hausdächern gegenüber. Einige Fans legen auf der Wiese hinter der Tribüne ihre Schals und Pullis ab, um zum Gebet zu knien. Andere werfen von der Tribüne Wasserflaschen auf Polizisten und Fotografen. Manche zünden sich einen Joint an. Alle unterstützen Raja Casablanca, Fans aus Soualem sind nicht angereist.
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Omar und Maleek sind nicht dabei. Omar muss zur Verlobung seiner Schwester. Maleek hat natürlich eine Eintrittskarte, doch sein Geld reicht nicht für das Zugticket nach Mohammedia.
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Mitarbeit: Yassine Oulhiq
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Titelbild: Fadel Senna/AFP via Getty Images
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fluter/%C3%B6pnv-luxemburg-kostenlos.txt
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fluter/100-sekunden-mit-videoserie-berlinale-2020.txt
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hier geht's zur Rezension von "Schlaf"
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fluter/140journos-Journalismus-in-der-Tuerkei.txt
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fluter: Euer Ansatz ist es, neutral und faktenorientiert zu berichten. Doch die politische Polarisierung in der Türkei ist jetzt noch stärker als im Juni, als wir das letzte Mal miteinander gesprochen haben. Wie geht ihr damit um?
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Engin Önder: Es ist auf jeden Fall schwieriger geworden. Wir versuchen, uns weiterhin auf die Fakten zu konzentrieren. Mittlerweile berufen wir uns immer öfter auf Organisationen, um nicht zu riskieren, dass wir Verschwörungstheorien verbreiten. In der Berichterstattung über die Ermittlungen zum Putsch informieren wir uns in erster Linie über die Veröffentlichungen der Gerichte. Im Zweifelsfall machen wir deutlich, dass die Faktenlage nicht geklärt ist und dass es sehr unterschiedliche Standpunkte gibt.
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Seitdem der Ausnahmezustand in der Türkei ausgerufen wurde, werden kritische Stimmen unterdrückt und viele Oppositionelle verhaftet. Wie wart ihr davon betroffen?
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Als Organisation sind wir bisher weder von der Zensur noch von polizeilichen Ermittlungen oder Anzeigen betroffen gewesen. Wir machen, was wir immer gemacht haben. Aber was wir deutlich merken, ist eine Abnahme der Diversität unter unseren Contributors. Das ist hier gerade richtig schwierig. Man spürt die Anspannung deutlich. Uns schicken insgesamt deutlich weniger Leute Material. Vor dem Putsch haben uns Menschen aus dem gesamten politischen Spektrum ihre Nachrichten zugeschickt. Neben der etablierten Meinung gab es da auch viele kritische Stimmen, zum Beispiel von Liberalen oder Linken. Das hat sich verändert: Viele sind eingeschüchtert durch das, was in der Türkei gerade passiert, und haben Angst oder haben resigniert. Deshalb ist es schwieriger geworden, an Informationen zu gelangen, die in den offiziellen Nachrichten nicht vorkommen. Dadurch gibt es einen Mangel an Perspektiven in unserer Berichterstattung. Wir verwenden deshalb jetzt auch Meldungen der Nachrichtenagenturen, die wir überprüfen und in eine neutralere Sprache übersetzen. Momentan berichten wir zu 90 Prozent über die Gerichtsverhandlungen.
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140journos versucht via Twitter unabhängigen Journalismus zu organisieren. Aber das wird immer schwieriger, weil viele Menschen in der Türkei sich nicht mehr trauen, offen zu reden
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Wie erklärst du dir, dass 140journos nicht direkt von Repressionen betroffen ist?
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Unser Umgang mit Sprache ist entscheidend. Wir versuchen, Wörter zu vermeiden, die nur einer bestimmten politischen Perspektive entsprechen: Wenn es um Fethullah Gülens Bewegung Hizmet geht, schreiben wir nicht von einer Terrororganisation, wie das die Regierung und regierungsnahe Medien machen. Wir wollen aber auch nicht im Jargon der herkömmlichen Oppositionsmedien schreiben, die oft nur das berichten, was zu ihrer Version der Geschichte passt. Deswegen versuchen wir, bei polarisierenden Sachverhalten lediglich die Eigennamen zu verwenden, Strittiges wörtlich zu zitieren und einseitige Adjektive zu vermeiden. Das schützt uns, weil uns niemand einfach Parteilichkeit unterstellen kann. Anders als die meisten Journalisten in der Türkei machen wir bei 140journos keine Politik, sind also auch nicht Teil der Opposition. Dafür zahlen wir natürlich einen Preis: Es ist nicht sexy, wenn man keine reißerischen Überschriften verwenden kann.
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Ihr betont immer wieder, wie wichtig Transparenz für 140journos ist. Aber wie gewährleistet ihr dann in der heutigen Situation die Sicherheit eurer Contributors?
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Uns ist es generell wichtig, dass unsere Arbeitsweise für alle offen und transparent ist. Unserem Online-Newsroom kann jeder beitreten, der über unsere Website eine Einladung bekommt. Dort besprechen wir die meisten redaktionellen Angelegenheiten. Bisher haben wir bei großen Ereignissen auch immer die Klarnamen unserer Contributors veröffentlicht. Aber in der momentanen politischen Situation sind wir auch bereit, Nachrichten anonym zu veröffentlichen, sollte sonst jemand in Gefahr geraten.
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Blicken wir noch mal kurz zurück auf die Nacht vom 15. auf den 16. Juli, als Teile des türkischen Militärs versucht haben, gegen die Erdoğan-Regierung zu putschen. Was geschah in dieser Nacht auf 140journos?
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In dieser Nacht haben wir die höchste Anzahl an Twitter-Impressionen erreicht, seit es 140journos gibt – 110 Millionen an einem Tag. Sonst kommen wir in einem ganzen Monat auf 55 Millionen. Wir hatten ja bereits ein großes Contributor-Netzwerk, so konnten wir zur verlässlichsten Nachrichtenquelle im ganzen Land werden. Die anderen Medien haben sich nicht getraut, kritisch zu berichten – sie haben sich selbst zensiert. Präsident Erdoğan und Ministerpräsident Yıldırım haben dieses Verhalten anschließend gelobt. Es hieß, die Medien hätten gute Arbeit geleistet und keine Panik verbreitet. Daran sieht man sehr gut, was nach der Vorstellung der türkischen Regierung guter Journalismus ist. 140journos dagegen hat wirklich guten Journalismus gemacht. Das kann man sich auf unserer Website anschauen: Tausende Retweets in jedem Beitrag. Wir haben die Leute auf dem Laufenden gehalten.
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Ihr verwendet Twitter, Facebook und WhatsApp für die Verbreitung eurer Nachrichten. Hattet ihr in der Putsch-Nacht Probleme mit Internetzensur?
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Nein, denn es gab ein Missverständnis zwischen unterschiedlichen Regierungsorganen und den Mobilfunk- und Internetanbietern. Wir haben von einem Turkcell-Manager die Information bekommen, dass in der Putsch-Nacht die Befehle der Regierung, das Internet zu sperren, nicht ausgeführt wurden, weil davon ausgegangen wurde, dass es sich um Befehle der Putschisten handele: Nur deshalb gab es Nachrichten aus den sozialen Medien. Erst später im November wurden die sozialen Medien in großem Umfang blockiert. Aber wir hatten über VPN (Virtual Private Networks) trotzdem Zugang zu Twitter, WhatsApp und Facebook. Einen Tag später hat die Regierung auch die bekanntesten VPN-Zugänge gesperrt und IP-Adressen blockiert. Das gab es so zum ersten Mal.
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Weil sie sich nicht mehr drauf verlassen können, dass Menschen ihnen Informationen zusenden, arbeiten die Leute von 140journos an einer neuen Strategie
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Wie wird sich deiner Ansicht nach der Journalismus in der Türkei entwickeln?
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Der etablierte Journalismus hat ein großes Problem: Nachrichten aus großen Medienhäusern und die Arbeit in einer Komfortzone – das ist vorbei. Die Journalisten müssen neue Allianzen eingehen, selbstständig arbeiten, anonym arbeiten. Es wird bald noch mehr Internetjournalismus geben, weil das einfach leichter zu organisieren ist. Aber auf jeden Fall wird es noch schwieriger werden, investigativ zu arbeiten, weil man kaum an Informationen kommt, denn viele Menschen haben Angst. Wir müssen also neue Wege finden. Auch 140journos ist gerade dabei, sich neu aufzustellen. Wir müssen unsere Struktur verändern, weil wir uns nicht mehr darauf verlassen können, dass uns Menschen weiterhin Informationen zusenden.
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Was erwartest du von EU-Politikern, Journalisten aus der EU und der Zivilgesellschaft?
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Zwei Dinge: eine Kritik und eine Bitte. Die Türkei ist momentan in keiner guten Verfassung. Das ist so deutlich, und ich glaube, ich muss das hier nicht genauer erklären. Die europäischen Medien berichten manchmal nicht korrekt, das liegt wahrscheinlich auch daran, dass populistische Bewegungen auf dem Vormarsch sind. Womöglich hindert manche Journalisten ihre politische Einstellung daran, selbst über Erdoğan objektiv zu berichten. Ich bitte daher um bessere Berichterstattung. Europa muss besser informiert werden über die Verhältnisse in der Türkei. Wenn man sich auf Gerüchte verlässt, was mitunter passiert, wirkt das nicht glaubwürdig für die Menschen in der Türkei und schürt im Zweifelsfall antieuropäische Stimmungen. Europäische Medien sollten türkischen Journalisten die Möglichkeit geben zu publizieren. Wie das in Deutschland zum Beispiel die "Zeit" mit Can Dündar [dem in der Türkei verurteilten ehemaligen Chefredakteur der türkischen Zeitung "Cumhuriyet"] gemacht hat.
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fluter/21021916.txt
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Im individuellen und kollektiven Gedächtnis stehen historische Jahrestage für Terror, Tyrannei und Unterdrückung, manche auch für Revolution, Sieg und Befreiung – und immer hängen daran die Gefühle und Traumata, die mit den einschneidenden Ereignissen einhergingen. Es handelt sich um Zahlen, die mit Emotionen aufgeladen sind.
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Auch deshalb waren sie immer schon Gegenstand des offiziellen Gedenkens von Staaten, politischen Gemeinschaften und ideologischen Bewegungen. Doch nur zum Teil geht es dabei um eine gemeinsame Verarbeitung und Bewältigung des Erlebten. Gedenktage werden oft auch instrumentalisiert, um die Menschen auf eine bestimmte Sicht der historischen Ereignisse einzuschwören und Identität zu stiften. Daten werden zu Denkmälern, errichtet von den jeweils Herrschenden.
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Marc Beckmann fotografiert seit 2004 auf der ganzen Welt solche offiziellen Feierlichkeiten. Dabei verlässt er mit seiner Kamera bewusst den protokollarischen Rahmen und die Sichtweisen, die durch die Rituale, Paraden und Kranzniederlegungen vorgegeben werden. Diesen plakativen Vereinfachungen, die wenig Raum für eine Mehrdeutigkeit der Erinnerung lassen, möchte Marc Beckmann mit seiner Fotoarbeit "Anniversaries" etwas entgegensetzen. Insofern kommt es bei seinen Bildern besonders darauf an, dass es keine offiziellen Bilder sind.
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Marc Beckmann, geboren 1978, studierte Fotografie an der Fachhochschule Bielefeld und arbeitet als freier Fotoreporter in Berlin. Mit "Anniversaries" und anderen Arbeiten sucht er immer wieder nach Möglichkeiten, um die Produktion und Rezeption heutiger Medienbilder zu hinterfragen – und findet sie im Grenzbereich zwischen Fotojournalismus und Kunst. www.marcbeckmann.com
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27. Januar 2005: Polnische Soldaten bei der Gedenkveranstaltung zum 60. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau durch die Rote Armee.
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9. Mai 2005: Veteranen und junge Soldaten feiern in Moskau den 60. Jahrestag vom Ende des Zweiten Weltkriegs.
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11. Februar 2009: Zum 30. Jahrestag der Islamischen Revolution, die zur Absetzung des Schahs und der Monarchie im Iran führte, finden auf dem Azadi-Platz in der Hauptstadt Teheran offizielle Feierlichkeiten statt.
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17. Juni 2008: In Berlin Nikolassee wird an den 55. Jahrestag des blutig niedergeschlagenen Volksaufstands in der DDR erinnert.
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21. Februar 2011: Der Beginn der Schlacht um das französische Verdun im Ersten Weltkrieg wird alljährlich mit einem Fackelzug begangen – hier am 95. Jahrestag.
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1. September 2009: Menschen knien in Danzig nieder bei einer Gedenkveranstaltung zum 70. Jahrestag des Überfalls von Nazideutschland auf Polen, der den Zweiten Weltkrieg auslöste.
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11. September 2011: Menschen beim 10. Jahrestag des Terrorangriffs von al-Quaida auf das World Trade Center in New York.
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13. August 2011: Mutter und Kind am 50. Jahrestag vom Bau der Berliner Mauer im Dokumentationszentrum Berliner Mauer.
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30. April 2010: Besucher des Kriegsopfermuseums in der vietnamesischen Hauptstadt Ho-Chi-Minh-Stadt am 35. Jahrestag des Falls von "Saigon", wie die Stadt früher hieß. Der Tag markierte das Ende des Krieges gegen die US-Amerikaner.
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11. Juli 2011: Trauernde am 16. Jahrestag des Massakers von Srebrenica im Balkankrieg. Sie beerdigen 613 Angehörige, die erst im Jahr zuvor aus Massengräbern geborgen und identifiziert wurden.
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25. Januar 2013: Am zweiten Jahrestag der Revolution in Ägypten ist das Land noch weit davon entfernt, zur Ruhe zu kommen.
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28. Juni 2014: Enthüllung eines Denkmals für den Attentäter Gavrilo Princip. Anlass ist der 100. Jahrestag des Attentats auf den österreichisch-ungarischen Thronfolger Franz Ferdinand, das zum Ersten Weltkrieg führte.
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01Das farb- und geruchlose Kohlenstoffdioxid (CO2) ist eine chemische Verbindung aus Kohlenstoff (C) und Sauerstoff (O) und natürlicher Bestandteil der Luft. Es entsteht bei der Verbrennung fossiler Stoffe und in lebenden Organismen bei der Zellatmung. Gelöst kennen wir es als Kohlensäure. Es nimmt Teile der Wärmestrahlung der Sonne auf, weswegen es mit anderen Treibhausgasen dafür sorgt, dass die Erdoberfläche von circa −18 °C auf +15 °C erwärmt wird. Sein natürliches Vorkommen sorgt also für ein lebensfreundliches Klima. Zum Problem wird es erst durch den menschengemachten – den anthropogenen – Treibhauseffekt, der durch ein Übermaß an CO2-Emissionen entsteht. Die Erde erwärmt sich. Die vergangenen zehn Jahre waren die wärmste Dekade, die auf der Erde je gemessen wurde. Laut Berechnungen der NASA hat sich die globale Durchschnittstemperatur in den vergangenen 30 Jahren um 0,17 Grad erhöht. Klingt ziemlich wenig, ist es aber gar nicht: Der Temperaturunterschied von heute zur letzten Eiszeit beträgt gerade mal sechs Grad.
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02vom Menschen gemachten Treibhauseffekts verantwortlich – aber es gibt weit stärkere Treibhausgase. Die im Kyoto-Protokoll erwähnten Gase sind Methan (vor allem durch Massentierhaltung), Lachgas (Viehhaltung und Düngemittel), Fluorkohlenwasserstoffe (z.B. in Kühlmitteln) und Schwefelhexafluorid, womit früher Reifen gefüllt wurden. Die Wirkung dieser Gase wird in CO2-Äquivalent ausgedrückt. Es beschreibt, um wievielmal höher die Wirkung eines Gases gegenüber CO2 ist. So hat Methan die 25-fache Wirkung und daher ein Äquivalent (CO2e) von 25. Lachgas ist sogar 298-mal schlimmer.
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03Auch wenn es einem nach einem langen Winter nicht so vorkommt: Die Erde erwärmt sich. Die vergangenen zehn Jahre waren die wärmste Dekade, die auf der Erde je gemessen wurde. Laut Berechnungen der NASA hat sich die globale Durchschnittstemperatur in den vergangenen 30 Jahren um 0,17 Grad erhöht. Klingt ziemlich wenig, ist es aber gar nicht: Der Temperaturunterschied von heute zur letzten Eiszeit beträgt gerade mal sechs Grad.
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04Ein weiteres Indiz für eine Erwärmung ist das Schmelzen der Gletscher. Dass der Urmensch "Ötzi" 1991 unter dem Eis auftauchte, ist dem Schwinden der Gletscher zu danken, die als Indikator für klimatische Veränderungen dienen.
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05Deutschland bläst in Europa das meiste CO2 in die Luft: 2007 waren es 861 Millionen Tonnen, an zweiter Stelle folgt Großbritannien mit 590 Millionen Tonnen. Ganz Afrika kommt gerade mal auf knapp über 1.000 Millionen Tonnen. Größter CO2-Produzent sind die USA mit 6.575 Millionen Tonnen CO2.
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Sylvia Robinsonist schon als Soulsängerin erfolgreich, als sie mit anderen Sugar Hill Records gründet."Rapper's Delight", der erste Song des Labels, wird direkt ein Hit. Er beginnt so: "I said a hip-hop, the hippie, the hippie / To the hip, hip-hop and you don't stop the rockin'." Nonsens eigentlich. Aber das Genre hat seinen Namen.
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Aus Japan kommt derDrumcomputer TR-808. Er gibt auch denen einen Rhythmus, die sich keinen Drummer leisten können. Der 808-Sound wird ein Grundnahrungsmittel für Rap: Afrika Bambaataa, Run-D.M.C., Missy Elliott, Pharrell Williams,die Trap-Rapperaus den US-Südstaaten, alle bedienen sich.
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Mit Blondies Song"Rapture"trittweißer Rapauf den Plan. Die New Yorker Boheme hat Wind von der Hip-Hop-Sache bekommen, die Blockpartys kommen nach Harlem und Manhattan. Im Jahr darauf wollen auch die drei Punker Ad-Rock, MCA und Mike D rappen: DieBeastie Boyswerden die erste kommerziell erfolgreiche weiße Rap-Crew.
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Johann Hölzel akaFalcolandet mit "Der Kommissar" einen Hit. "Das ist Rap", sagt er in einem Interview, "das istein schneller Sprechgesang. Kommt vom Stil her aus Amerika." Falcos Sprache, Sound und Aura beeinflussen Deutschrap bis heute.
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"The Message"vonGrandmaster Flash & The Furious Fivekritisiert die Lebensumstände in der Bronx. Der Song tritt eine Wellegesellschaftskritischer Rap-Textelos. Rap etabliert sich als"Ghetto-CNN", als Livesendung aus den Brennpunkten.
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Ice-Tveröffentlicht erste Aufnahmen. Er gilt als PionierdesGangsta-Rapvon der US-Westküste. Der wird die Alltagsgeschichten aus den Schwarzen Vierteln der Ostküste und die Wut über die Lebensumstände ausbauen: zu Großerzählungen umAutos, Knarren und Crack. Dadurch werden die MCs langsam wichtiger als die DJs.
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Rick Rubin und Russell Simmons gründenDef Jam– im Wohnheimzimmer von Rubin, der aufs College geht. Ihr erstes Release kommt vom 16-jährigenLL Cool J. Def Jam wird das Rap-Label schlechthin, Rubin einer der größten Musikproduzenten.
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"Beat Street", einFilmüber den Alltag afroamerikanischer Jugendlicher, macht Hip-Hop auch unter Jugendlichen in derDDRbekannter. Dass der Film vor der strengen Kulturbehörde besteht, liegt vermutlich an Co-Produzent Harry Belafonte. Der Sänger kritisiert öffentlich den Kapitalismus und das Apartheidsregime in Südafrika, steht also in der Gunst der Behörden.
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DerSP-12kann Klänge digital aufnehmen, wiedergeben, verzerren, neu zusammensetzen: alles, was vorher per Hand mit Vinylplatten gemacht werden musste. Vor allem können sich den Drumcomputer auch die noch weitgehend im Untergrund operierendenHip-Hop-Produzentenleisten.
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"My Adidas"vonRun-D.M.C.lässt die Verkäufe der berappten Sneaker explodieren. Und beschert der New Yorker Crew einenMillionenvertrag. Die Modeindustrie hat Rapper als Werbeträger entdeckt.
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In"Straight Outta Compton"erzählenN.W.Aaus einem der ärmsten Viertel von Los Angeles,sie wüten über Polizeigewalt, Ungerechtigkeiten und Kriminalität. EinGangsta-Rap-Meilenstein, der die Rivalität zwischen East und West Coast anschiebt: Kalifornien schickt sich an, New York als Rap-Hauptstadt abzulösen.
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Hip-Hop bekommt seineFernsehshow: "Yo! MTV Raps" ist ein großer Schritt RichtungMainstream, MTV war damals so was wie Instagram und YouTube zusammen. In Deutschland rappen die Pioniere wie Bionic Force, LSD oder No Remorze derweil noch auf Englisch: Deutsch gilt als zu lame.
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Die GruppeA Tribe Called Questdebütiert mit "People's Instinctive Travels and the Paths of Rhythm". Das Album steht für einen neuen Sound: Es mischt Hip-Hop, live eingespielteJazzelementeund gewagte Samples, zum Beispiel von Jimi Hendrix.
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"Die da!?!"chartet als erster deutscher Rapsong. Dafür erntenDie Fantastischen Viereinen dicken Vertrag bei Sony. Und Hass aus dem Rap-Untergrund, der seine Subkultur nicht als seichte Partyhits an den Mainstream verscherbeln will.Realkeeperwie die Stieber Twins oder Advanced Chemistry wollen politischen Rap. In"Fremd im eigenen Land"thematisieren Letztere die Erfahrungen von Migrantinnen und Migranten in Deutschland. Der Song ist bis heute eine antirassistische Hymne.
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Moses Pelhamist einer der Gründer desRödelheim Hartreim Projekts. Und später der Plattenfirma 3P, die mitSabrina Setlureine der ersten großen deutschen Rapperinnen signt. Pelham hat das Rappen von GIs gelernt. Die in Süddeutschland stationierten US-Soldaten bringen Hip-Hop unter die Leute, als Radio und TV noch nicht hinhören.
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Seit 20 Jahren tobt in den USA der"War on Drugs": ein politisches Programm gegen den Handel und Konsum illegaler Drogen. Es kriminalisiert vor allem junge Schwarze. Und führt zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Polizei – von denen Rap erzählt. In"Sound of da Police"demonstriert KRS-One deninstitutionalisierten Rassismus gegen Schwarze, indem er die "Officers" (Polizeibeamte) mit den "Overseers" (die Wächter auf Sklavenplantagen) verschwimmen lässt: "Overseer, overseer, overseer, overseer / Officer, officer, officer, officer / Yeah, officer from overseer."
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Mit "Enter the Wu-Tang (36 Chambers)" bringt derWu-Tang Clan, zehn MCs mit dem ikonischen gelben W als Symbol, einen neuen,härteren Sound, der unter anderem von Martial-Arts-Filmen beeinflusst ist.
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VIVAgeht in Deutschland an den Start. Das Musikfernsehen macht Songs wie "Jein" von Fettes Brot, "Du liebst mich nicht" von Sabrina Setlur, "A-N-N-A" von Freundeskreis, "Hammerhart" von den Absoluten Beginnern oder "Danke, gut" von Eins Zwo mit Dendemann bekannt. Stuttgart, Hamburg, Frankfurt und Heidelberg kämpfen um denTitel der "Hip-Hop-Hauptstadt".
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Nasist gerade 20, als er"Illmatic"veröffentlicht. Ein Album, das bleibt: Der New Yorker rappt so anspruchsvoll und lyrisch aus seiner Hood, dass er zumVorbildfür Rapper wie Eminem, Drake und 50 Cent wird.
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Queen LatifahundSalt-N-Pepagewinnen als erste Rapperinnen Grammys.
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"La Haine"(Hass) läuft in den Kinos. DerFilmzeigt, wie wichtig Hip-Hop für die Jugendlichen in denPariser Hochhaussiedlungenist. Und er visualisiert die Polizeigewalt und Trostlosigkeit, von denen Rap "nur" reimen kann. Die französische Polizei protestiert, der Vorsitzende des Front National (heute Rassemblement National) will die Macher des Films einsperren lassen.
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Der 25-jährige2Pacläuft eine Modenschau für Versace. Wenige Monate darauf wird er in seiner Limousine erschossen. Es ist die Eskalation eines Streits zwischen East und West Coast, der von beiden Fanlagern angeheizt wird und 1997 auch The Notorious B.I.G. das Leben kostet.
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Lauryn Hillverlässt mit 23 ihre supererfolgreiche Band Fugees. Auf"The Miseducation of Lauryn Hill"mischt sie Soul, R 'n' B, Gospel und teilt ihre Erfahrungen als junge Schwarze Frau in den USA. Ihr einziges Soloalbum gewinnt fünf Grammys und gehört zu den bestverkauften Alben aller Zeiten. In Deutschland rappt sichCora E.mit ihrem Album "CORAgE" aus Kiel nach oben. Sie ist ein Vorbildfür Frauen, die im ultramaskulinen Rap was werden wollen.
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In einem Chemnitzer Jugendzentrum findet das erste"splash!"statt. Heute ist es eines der größten Hip-Hop-Festivals in Europa.
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Kool Savasrappt härter und bildhafter als alle zuvor. Mit ihm und demLabel Royal Bunkerkriegt Deutschland seinen Straßenrap.
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Aggro Berlinkommt mitSido,BushidoundFler– und hat aus dem Nichts eine riesige Fangemeinde. Das Label macht Gangsta-Rap neuer Berliner Härte. Die Texte strotzen vorfrauenfeindlichen, homophoben und rassistischen Zeilen, einige der ersten Alben landen auf dem Index der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien.
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Mit "The Eminem Show" und dem Film"8 Mile"zementiertEminemseinen Status als Superstar. Die Filmsingle "Lose Yourself" gewinnt einen Oscar, den ersten für einen Rapsong.
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Der 16-jährigeSoulja Boyveröffentlicht seine Musik selber, online,ohne Major-Labelim Rücken. Durch Plattformen wie MySpace oder DatPiff, später auch Facebook und SoundCloud ist es einfacher denn je, Rapmusik zu veröffentlichen. Das öffnet sie für andere Genres.
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Migrantinnen und Migrantenund ihre Kinderhaben deutschen Rap geprägt. Ihr Einfluss wird dank Rappern wieXataroderCelo & Abdiimmer deutlicher. Letztere legen mit "Mietwagentape" einen neuen deutschen Straßenrap vor, der von Wortwitz, vielen verschiedenen Sprachen und absurden Reimen lebt.
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Nicki Minajs"Pink Friday" führt die US-Charts an. Minaj rappt über hart erarbeiteten Erfolg, Geld und ihrSelbstverständnis als "bad bitch". Das Album ebnet den Weg für die nächste Generation um Cardi B, Megan Thee Stallion oder Doja Cat.
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Crokrönt sich selbst zum"King of Raop"(Rap + Pop). MitPeter Fox("Stadtaffe") oderCasper("XOXO") zeigen auch andere, dass deutscher Rap vielseitiger ist als sein Ruf.
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"Russisch Roulette"vonHaftbefehlverändert alles. Der Offenbacher erzählt ultrapräzise aus den Crackküchen, Saunaclubs und Armutsmilieus, die die Mehrheitsgesellschaft sonst nur aus Reality-TV-Dokus kennt. Neu ist aber vor allem seine Sprache: ein Flow auskurdischen, arabischen, türkischen, zazaischen, bosnischen, armenischenund deutschen Vokabeln. Sein Rap lässt viele Menschen (und nächste Rap-Generationen) selbstbewusster ihre zweite oder dritte Muttersprache sprechen.
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Schwesta EwaoderSXTNzeigen, dass Rapperinnen kontrovers und trotzdem verdammt erfolgreich sein können. Shirin David ist schon eine bekannte YouTuberin, als sie mit einem Sabrina-Setlur-Cover chartet.
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Kendrick Lamars"Alright" ist einer der zentralen Protestsongs derBlack-Lives-Matter Bewegung.
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RAF Camora und Bonez MCetablieren mit dem Album"Palmen aus Plastik"einen neuen Deutschrap, der sich an karibischen und westafrikanischen Sounds bedient.
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In"Grauer Beton"reflektiertTrettmannseine Plattenbaukindheit in Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz) und die Nachwendezeit im Osten. Durch ihn, Marteria, Kraftklub, Zugezogen Maskulin, Finch, MC Bomber und andere werdendieostdeutschen Geschichtenim Rap lauter.
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Kendrick Lamarkriegt als erster Rapper denPulitzer-Preis.KollegahundFarid Banggewinnen auch etwas: einenEcho. Für viele ist daseinSkandal, weil beide auch antisemitische Zeilen rappen. Der Musikpreis wird daraufhin abgeschafft.
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Louis VuittonholtVirgil Ablohals Kreativdirektor. Er ist der ersteAfroamerikanerin einer solchen Position und kommt aus der Hip-Hop-Kultur.
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Capital Bralandetseinen 13. Nummer-eins-Hit– und überholt damit die Beatles an der Spitze der deutschen Charts-Geschichte.
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In "Old Town Road" kreuztLil Nas XRap und Country. Ein Schwarzer Rapper, derCountryhitslandet: für viele Fans ein Fehler im System. Lil Nas X kann es egal sein: Er verkauft Millionen Alben, erist der neue Superstar. Undoffen schwul. Immer noch eine Seltenheit im Rap.
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Kollegahlehrt in Onlineseminaren, worauf es im Leben ankommt. Teilnahmegebühr für das"Alpha Mentoring": 2.000 Euro. Andere Rapperinnen und Rapperverkaufen Vapes, Tiefkühlpizza, Shishatabak und vor allemEistee.
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Bei einem Konzertim Videospiel"Fortnite"trittTravis Scottals Avatar vor mehr als zwölf Millionen Gamern und Gamerinnen auf. Sein größter Liveauftritt, mitten im Corona-Lockdown.
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Eine Frau wirft dem RapperSamravor, sie vergewaltigt zu haben. Unter#DeutschrapMeTooerzählen Betroffene von Übergriffen und Machtmissbrauch im Deutschrap.
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Missy Elliottist die erste Rapperin in derRock & Roll Hall of Fame.
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Ghostwriter977veröffentlicht Songs mit Travis Scott, 21 Savage und The Weeknd – indem er einekünstliche Intelligenzdie Stimmen der Stars rappen lässt. Sein Erfolg ist groß, wirft aber Fragen auf: Sind solche Deepfakes die Zukunft der Musikindustrie – oder einfachUrheberrechtsverletzungen?
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Für"Friesenjung"tun sichSki Aggu, der niederländische Rapper Joost und das HumordenkmalOtto Waalkeszusammen. Der Techno-Rap-Remix geht über TikTok bis auf Platz eins der Charts. Und reanimiert eine tot geglaubte Debatte:Ist das noch Rap?
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Drakeerreicht als erster Musiker100 Milliarden Spotify-Streams.
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Dieser Beitrag ist im fluter Nr. 93 "Rap" erschienen.Das ganze Heftfindet ihr hier.
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fluter/Atomkraft-fuer-Ghana.txt
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seit diesem Jahr haben wir in Ghana eine neue Regierung, und ich habe tatsächlich die Hoffnung, dass es vorangeht. Eines unserer größten Probleme sind die täglichen Stromausfälle. Oft geht am Abend das Licht aus, und es können schon mal 24 Stunden vergehen, bis es wieder da ist. Das heißt: keine Musik mehr in den Bars, kein kaltes Bier, kein Buch vor dem Einschlafen. Es geht aber gar nicht so sehr um den fehlenden Komfort, sondern vor allem darum, dass unsere Wirtschaft ohne Elektrizität nicht vorankommt. Die Wasserturbinen am Voltasee sind zu schwach, um noch mehr Strom zu liefern, außerdem sind wir durch alte Verträge verpflichtet, Strom an unsere Nachbarländer zu liefern.
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Deshalb hoffe ich, dass der neue Präsident Akufo-Addo seinen Plan umsetzt, ein Atomkraftwerk zu bauen. Euer Stöhnen kann ich praktisch bis Accra hören. Während meines Praktikums bei euch habe ich ja gemerkt, dass die meisten Menschen in Deutschland die Atomkraft kritisch sehen und den Ausstieg begrüßen. Solche Bedenken gibt es auch hier, aber der Strom wäre für uns wie Sauerstoff – überlebenswichtig.
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In den letzten Jahren hat der Regen so stark abgenommen, dass sich der Bau weiterer Wasserkraftwerke kaum lohnt. Schuld ist der Klimawandel, den vor allem Industrienationen wie Deutschland verursachen. Mir scheint Atomkraft nicht die schlechteste Alternative zu sein, wenigstens produziert man kein weiteres CO2 wie ihr mit euren Kohlekraftwerken. Mich würde auch interessieren, wie viele Menschen in Deutschland gegen die Atomkraft wären, wenn ihre Kinder im Schein von Kerzen Hausaufgaben machen müssten. Was meint ihr?
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Wir können es uns schlicht nicht leisten, gegen Atomkraft zu sein. Laut Weltbank haben 1,1 Milliarden Menschen weltweit keinen Strom, in Ghana sind es 27 Prozent der Bevölkerung.
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Kann ja sein, dass es in alten AKW Störfälle gibt. Ich bin der Überzeugung, dass heutige Kernkraftwerke viel sicherer gebaut werden könnten, weil man um die Schwachstellen weiß: dickere Reaktorhüllen, Software, die vor Hackern geschützt ist, Standorte, die absolut erdbebensicher sind. Man ist ja heute nicht gegen Autos, weil sie in den 50er-Jahren noch unsicher waren. Es gibt heute Konzepte, den radioaktiven Müll in tiefe Bohrlöcher einzulagern – bis zu fünf Kilometer unter der Erde. In North Dakota in den USA gibt es erste Versuche dazu.
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Und, ja, Atomtechnik ist teuer. Aber denkt mal darüber nach, dass unsere Unternehmen einer Studie von 2015 zufolge jedes Jahr fast 700 Millionen Dollar allein deshalb verlieren, weil der Strom ausfällt. Wir sollten lieber ein gewisses Risiko eingehen, als die Menschen an der Entwicklung ihres Landes zu hindern.
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Euer Agomo
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Dass Agomo sich für unsere Snackbox und den Kicker begeistern konnte, war während seines Redaktionspraktikums im Sommer 2016 deutlich zu erkennen. Seine Atom-Euphorie hat er nicht so offen gezeigt
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Oliver Gehrs ist seit Jahren völlig elektrisiert vom Thema Kernenergie – aber eben als erklärter Atomkraftgegner
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ich freue mich, dass dir die neue Regierung Hoffnung macht. Das Problem mit dem Strom kenne ich selbst. Als ich vor zwei Jahren in Ghana war, fand ich es ziemlich nervig, ständig warmes Bier trinken zu müssen und vor dem Schlafengehen kein Buch lesen zu können.
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Ob aber ausgerechnet die Atomkraft die Lösung für dieses Problem ist, möchte ich bezweifeln. Man muss nicht mal damit argumentieren, dass die Atomkraft sehr gefährlich ist und es weltweit noch keine tauglichen Endlager für den Strahlenmüll gibt, die Technik macht auch ökonomisch keinen Sinn.
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In Deutschland war der Atomstrom immer nur günstig, weil er massiv staatlich subventioniert wurde. Die Unternehmen bekamen für die Errichtung der AKW Bundesbürgschaften, und es wurde ihnen erlaubt, die Meiler mit einem Betrag zu versichern, der nur einen winzigen Bruchteil möglicher Schäden abdecken würde. Außerdem wurden sie von der Verpflichtung, für die Endlagerung aufzukommen, weitgehend entbunden. Nun sitzen wir als Steuerzahler vor einem Milliardenberg, den uns die Hinterlassenschaften noch kosten werden. So gesehen gibt es eigentlich keine teurere Energie als die aus Atomkraft.
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Auch wenn die Atomlobby gern so tut, als stünde die Atomkraft vor einer großen Renaissance, gibt es außer Projekten nur wenige tatsächliche Neubauten. Und bei denen, die es gibt, explodieren oftmals die Kosten. Der Bau des finnischen Reaktors Olkiluoto 3 begann 2005, er sollte 2009 in Betrieb genommen werden. Nun, acht Jahre später, ist er immer noch nicht fertig. Die ganze Welt lacht ja über die Misere am Flughafen von Berlin, aber verglichen mit diesem Reaktorbau läuft es da gut. Für das finnische AKW musste Frankreich schon eine Staatsbürgschaft leisten, weil der französische AKW-Konzern Areva sonst aufgegeben hätte. Klingt nicht nach Fortschritt, oder?
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Ich glaube nicht, dass ein relativ armes Land so viele Milliarden riskieren sollte – für eine Technik, die nicht nur finanziell außer Kontrolle geraten kann. Du hast uns zwar geschrieben, dass es ein Verfahren gibt, wie man den Atommüll unkompliziert in Röhren weit unter die Erde bringen kann, aber ich habe mich erkundigt: Dieses Verfahren ist alles andere als sicher. In Deutschland beginnen wir gerade mit einer weiteren Endlagersuche, bei der nach tiefen Gesteinsschichten gesucht wird, die den radioaktiven Müll für eine Million Jahre abschirmen. Klingt absurd viel, aber wenn man sich die Halbwertszeiten vieler radioaktiver Stoffe anschaut, macht es Sinn. Es gibt Plutoniumisotope, deren Strahlung sich erst nach Hunderttausenden von Jahren halbiert.
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Ich kann verstehen, dass die Stromknappheit nervt, aber seid froh, dass ihr euch bislang nicht auf das Atomabenteuer eingelassen habt. Die Milliarden, die man dafür braucht, sind in der Windenergie oder der Wasserkraft besser aufgehoben.
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Liebe Grüßedein Oliver
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vielleicht sollte ich wirklich dankbar dafür sein, dass Ghana bislang atomfrei ist, aber sollte ich nicht noch dankbarer sein, wenn die permanenten Stromausfälle irgendwann mal der Vergangenheit angehören, auch wenn das bedeutet, in die Atomenergie einzusteigen?
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Politische Stabilität, die in Afrika leider allzu selten ist, ist auch eine Frage der Versorgungssicherheit. Ein Land, in dem die Menschen unzufrieden und wütend sind, ist schwerer zu regieren und immer in Gefahr, dass sich Bürger radikalisieren. Was ist teurer: das Risiko der Kosten beim Bau eines AKW oder das Risiko von gesellschaftlichen Verwerfungen? Ich frage das auch, weil die Stromfrage in Ghana ungeheuer wichtig ist. Sie entscheidet über das Schicksal von Regierungen. Und wir sehen in vielen Nachbarländern, wozu eine veraltete oder überlastete Infrastruktur führen kann.Ein anderer Aspekt ist die Frage der Alternativen. Schon jetzt werden fossile Energieträger im großen Maßstab verbraucht. Die ganzen Diesel- und Benzingeneratoren verpesten die Luft in den Städten und machen die Menschen krank. Sollen wir in Zukunft noch mehr Öl verfeuern?
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Wir haben jahrelang mit Solarenergie herumexperimentiert, aber die Wahrheit ist, dass all diese dezentralen Solarzellen kein Ersatz für eine sichere, zentrale Energieversorgung sind. Die meisten Haushalte können sich diese Module auch gar nicht leisten. Die Atomenergie würde aber nicht nur diese Haushalte günstig und ohne Schwankungen beliefern, sondern auch die Industrie.
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Es stimmt: Benutzte Brennstäbe sind gefährlich, aber ich bin der Überzeugung, dass verantwortlich damit umgegangen werden kann. In Deutschland habt ihr doch gerade ein neues Gesetz zur Endlagersuche verabschiedet, mit dem bürgernah und transparent nach einem Ort für den Abfall gesucht wird. Gefährlicher aber als jeder radioaktive Abfall ist eine verzweifelte und wütende Bevölkerung. Wütend darüber, dass Babys sterben, weil die Brutkästen im Krankenhaus nicht funktionieren. Oder sie ihre Familien nicht versorgen können, weil die Geschäfte ohne Strom nicht laufen.
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Kann schon sein, dass es Menschen gibt, die es nicht so schlimm finden, bei Kerzenlicht zu lesen, aber sollen wir wieder die Wäsche im Fluss waschen? Wie machen wir das Wasser heiß? An einem Lagerfeuer? Wir haben Gott sei Dank eine wachsende Mittelschicht, deren Bedürfnisse größer werden. Wir benötigen also eine Politik, die darauf reagiert, wenn wir das Wachstum nicht abwürgen wollen.
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Es ist ja auch nicht so, dass wir uns nicht um die Umwelt sorgen. Das ist kein Privileg reicher Länder. Mir zum Beispiel liegt die Umwelt sehr am Herzen, deswegen bin ich auch gegen den weiteren Ausstoß von CO2. Jeder Mensch, der sich wegen des Klimawandels Sorgen macht, kann nicht ernsthaft von uns erwarten, dass wir die Atomenergie nicht in unseren Energiemix miteinbeziehen. Jedenfalls nicht bis zum Ende dieses Jahrhunderts.
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Alles LiebeAgomo
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Um ihn zu umrunden, mitsamt seiner Stützwurzeln, die sich in Kopfhöhe strahlenförmig vom Stamm zum Boden neigen, brauche ich 29 Schritte. Sein Stammdurchmesser beträgt drei Meter, einen Meter mehr als die Säulen des Parthenon-Tempels auf der Akropolis. Dennoch ist der Baum längst nicht so alt wie manche Kiefern, Oliven- oder Mammutbäume in kühleren und trockeneren Klimazonen, die jahrtausendealt werden können. Im Regenwald mit seinen gefräßigen Pilzen und Insekten werden nur wenige Kapokbäume älter als ein paar Jahrhunderte. Dieses Exemplar schätzen Ökologen auf 150 bis 250 Jahre. Der Baum ist nicht aufgrund seines Alters so groß, sondern weil junge Kapokbäume pro Jahr zwei Meter wachsen, worunter die Holzdichte und die chemische Abwehrkraft allerdings leiden.
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Die Kapokbaumkrone erhebt sich wie eine Kuppel über ihren 40 Meter und damit mindestens zehn Gebäudestockwerke hohen Nachbarbäumen, die sie noch um weitere zehn Meter überragt. Wenn ich auf meinem Hochsitz im Kapokbaum sitze, breitet sich unter mir ein Kronendach aus, das mit den gleichmäßigen Wipfelngemäßigter Wälderwenig gemein hat. Ich zähle bis zum Horizont ungefähr zehn Kapokbäume, die wie Hügelkuppen aus einer unregelmäßigen, zerklüfteten Landschaft ragen.
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Der Kapokbaum ist ein Baumriese. Auch eine Weltachse? Axis mundi? Vielleicht. Doch das Rauschen des Regens führt jeden Gedanken ad absurdum, den Baum von seiner Gemeinschaft zu trennen. Die Regentropfen prallen auf Blättertrommeln: Der botanische Reichtum wird vom Regentrommler vertont. Jede Pflanzenart erzeugt ihren eigenen Regenklang. Im Geräusch des Regens spiegelt sich die Blättervielfalt des Kapokbaums und anderer Arten, die auf und neben ihm leben. (...)
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In der Kapokbaumkrone wird das pflanzliche Trommeln von Tiergeräuschen überlagert, von Meckern, Heulen, Jaulen, Pfeifen, Kreischen, Summen oder Murmeln. Jedes akustische Verb hat hier seinen Meister gefunden, und viele Arten kommunizieren mit Lauten, für die unsere Sprache kein Wort kennt. Die flirrenden Flügel einer Schwalbennymphe dröhnen, punktiert von scharfem, peitschenähnlichem Pfeifen. Der Kolibri, ein daumengroßes Schillern in Blau und Grün, taucht seinen Schnabel in den roten Blütenbogen einer gestreiften Lanzenbromelie. Ein Frosch quakt zwischen den aufragenden fleischigen Blättern der Pflanze quak-quak-quaAK!, was umgehend von einem Dutzend weiterer Frösche beantwortet wird, die sich im Bromeliendickicht der Kapokbaumäste verstecken. Anders als Träufelblätter können die aufrechten Blattrosetten der Bromelien das aufgefangene Wasser festhalten. In dem Trichter zwischen den Blattansätzen kann eine Bromelie vier Liter Wasser sammeln: ein hervorragender Laichplatz für Frösche undHunderte andere Arten.Die Bromelien in den Baumwipfeln fangen auf einem Hektar Wald 50.000 Liter Wasser auf, zumeist in den Ästen der Baumriesen.
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Der Kapokbaum ist ein Himmelsteich. Doch Teiche sind nicht das einzige Habitat im Kronendach. In den Ästen dieses Kapokbaums gibt es so viele Mikroklimazonen wie sonst auf Hunderten Hektar gemäßigter Wälder. In manchen Astgabeln haben sich Sümpfe gebildet und in einigen Astlöchern Feuchtgebiete, die bald wieder trockenfallen. In der Krone ist durch das herabgefallene Laub von Jahrzehnten eine Erdkrume entstanden, die genauso tief und nährstoffreich ist wie die des Waldbodens. Der Humus bleibt auf den breiten Ästen liegen oder im Gewirr der Schlingpflanzen hängen. Ein Feigenbaum, mit einem Stamm, so mächtig wie ein menschlicher Torso, wurzelt dort inmitten anderer Bäume: ein Wald, 50 Meter über dem Erdboden. Er gedeiht vor allem auf der Nord- und Ostseite des Kapokbaums, wo die Kronendach-Erde so feucht und das Blätterdach beinah so dicht ist wie in einer schattigen Schlucht.
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Auf den südwestlichen Ästen der Wetterseite erduldet eine Gemeinschaft aus Kakteen, Flechten und rasiermesserscharfen Bromelien dagegen ein Wechselbad aus Wolkenbruch und Wüste: Bei Regen schwellen die Pflanzen an, um unter der erbarmungslosen Äquatorsonne wieder zu schrumpfen. Die senkrechten Stämme der Bäume sind mit einem Geflecht aus Kletterpflanzen und Orchideengärten bedeckt, mit einer Wasser speichernden Matte, in der auch Farne wurzeln. Und über all dem sind noch die meist achtfingrigen Blätter des Kapokbaums aufgefächert, die nicht größer sind als eine Kinderhand. Sie schweben an ihren Stielen wie hauchdünne Schleier. Sie scheinen nicht zum Wesen des riesigen Baums zu passen, doch sie müssen, anders als die geschützten Pflanzen weiter unten, Stürmen und Fallböen standhalten. Bei Sturm gibt der Kapokbaum nach und klappt die kleinen Fächerblätter ein.
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Die Tropen wurden bislang meist vom Boden aus erforscht. Erst seit Kurzem klettern Biologen über Türme, Strickleitern und Kräne bis in die Kronen. Und haben dabei entdeckt, dass mindestens die Hälfte aller Regenwaldpflanzen ausschließlich im Kronendach wächst. (...)
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Wie jemand, der in Platos Höhle zurückkehrt, bin ich bei meiner Rückkehr in die vertraute Welt nicht mehr derselbe. Ich weiß nun, dass weit über mir unvergleichlich schöne, komplexe biologische Welten liegen. Ich bewege mich in der Ebene, doch durch meinen Kopf und über den Boden, auf dem ich gehe, flirren das Echo und die Schatten der oberen Welt.
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Titelbild: Klaus Schönitzer, 2008/Wikipedia/Creative Commons
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Aber die Möglichkeiten des Zeigens sind heute ganz andere.
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Die sozialen Medien ermöglichen das Zeigen von Reichtum nicht nur intensiver, sondern auch selbstbestimmter. Jeder kann selbst entscheiden, was er in die Kamera hält, und ist nicht von Journalisten und ihren Darstellungen abhängig. Instagram etc. bieten ganz neue Formen der Inszenierung. Ein Nebeneffekt dieser Entwicklungen ist, dass die Reichen plötzlich wieder stärker als "Vorbilder" des Konsums in Erscheinung treten. Interessant daran ist, dass das Zeigen von Luxusgegenständen noch lange nichts darüber aussagt, wie reich derjenige, der sie zeigt, wirklich ist.
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Verlieren klassische Statussymbole bei vielen jungen Leuten nicht eh zunehmend an Wert?
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Das ist schwierig zu beantworten. Ich denke, wir können aber durch Gruppen wie Occupy Wallstreet eine deutliche Gegenbewegung feststellen. Viele junge Leute sehen, dass beim Streben nach Reichtum Wichtiges auf der Strecke bleibt, und kritisieren von Politik und Finanzmärkten. Sie besinnen sich deswegen ganz bewusst auf Nachhaltigkeit und betrachten monetären Reichtum eben nicht mehr als einzig erstrebenswertes Ziel. Aber das ist nur eine Gruppe, es gibt auch andere, die ganz bewusst die Inszenierung von Reichtum nachahmen.
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Seit wann ist der Begriff Reichtum überhaupt an Geld gekoppelt?
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In Wörterbüchern finden wir noch bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts zwei Begriffsbedeutungen: den geistigen und den monetären Reichtum. Ende des 19. Jahrhunderts wird Reichtum dann aber zunehmend an Geld gekoppelt. Das erklärt sich auch durch die Entstehung der großen bürgerlichen Vermögen in der Zeit der Industrialisierung. Auch der Begriff des Millionärs erlebte erst hier, also in den 1880er-Jahren, seine Blütezeit.
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Als nicht mehr nur Adlige reich waren?
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Richtig. Vor der Industrialisierung besaß die Aristokratie in großen Teilen die hohen Vermögen in Deutschland, die ja vor allem an Grundbesitz gekoppelt waren und von Generation zu Generation vererbt wurden. Mit der Industrialisierung entstanden dann die großen bürgerlichen Vermögen. Hier war die Quelle eben nicht mehr allein Herkunft und Grundbesitz, sondern Unternehmertum und Finanzwesen. Beispielhaft für solche Karrieren sind die sogenannten Stahlbarone wie Thyssen oder Krupp. Diese neuen Vermögen entstanden von 1880 bis 1890 und setzten sich allein in ihrer Anzahl vom alten Reichtum ab. 1874 gab es in Preußen 170 Millionäre, 1900 waren es bereits 10.000. Reichtum war plötzlich nicht nur eine Sache des Erbes, sondern etwas, das man durch Erfolg, durch Erfindergeist, aber auch durch all die Vor- und Nachteile des Kapitalismus erlangen konnte.
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Was ist schon reich? Erst seit Ende des 19. Jahrhunderts wird Reichtum mehr und mehr mit Geld assoziiert
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Galten die neuen Millionäre als neureich?
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Die Aristokratie empfand die Wirtschaftsbürger teilweise als geschmacklose Emporkömmlinge und entwickelte in dieser Zeit die bereits erwähnte "Kultur der Kargheit". Gerade jene Teile des Adels, die zum Ende des 19. Jahrhunderts Macht und Reichtum verloren hatten, nutzten diese Praxis der Abgrenzung; Sie stellten Reichtum bewusst nicht mehr zur Schau, wie es dann die großen Industriellen taten, die sich entsprechende Anwesen bauten – etwa die Villa Hügel der Familie Krupp in Essen.
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Damit ging auch die moralische Frage einher, wie mit Reichtum umzugehen sei. Interessant bei der Einteilung von altem und neuem Geld ist ja, dass diese Einteilung immer wieder neu definiert wird. In den 1920er-Jahren waren es eben die Thyssens und Krupps, die das alte Geld darstellten und den Neureichen und Profiteuren der Wirtschaftskrise den Umgang mit Geld vorleben wollten.
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Was hat die Erkenntnis, dass Reichtum nicht mehr ausschließlich eine Frage der Geburt ist, für Folgen gehabt?
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Sie bedeutete Hoffnung, vor allem in Zeiten des Umbruchs. Im Ersten Weltkrieg gingen viele Vermögen verloren, aber es entstanden auch neue. In der Weimarer Zeit erschienen dann zahlreiche Ratgeber, die erklärten, wie man reich werden könne. Nach dem Zweiten Weltkrieg war es ähnlich – eigentlich immer, wenn es große politische oder wirtschaftliche Zäsuren gab, durch die sich neue Möglichkeiten ergaben. Da wuchs bei vielen die Hoffnung auf Umverteilung.
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Auch in den sogenannten Wirtschaftswunderjahren in den 1950ern?
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In den 1950er- und 1960er-Jahren war der Aufstieg der sogenannten Neureichen weniger als zuvor an Bildung und Herkunft gekoppelt, mehr an Ideen und geschicktes Unternehmertum. Damals erschien in der Illustrierten Stern eine Serie mit dem Titel "Deutschland – deine Jungmillionäre". Solche medialen Homestories waren eine Botschaft für die Mitte. Sie versprachen: Jeder kann es schaffen.
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In Deutschland reden manche nicht so gern über Geld und zeigen auch den Reichtum nicht. Woher kommt das?
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Die Erklärungen, die wir in der Literatur finden, sind ganz unterschiedlich. Sicher kann man zuallererst auf die starke Bedeutung der Religion in Deutschland verweisen. In vielen Religionen wird Reichtum stigmatisiert. Interessant ist, dass wir nicht nur ein bewusstes Beschweigen des Reichtums von einem Teil der Reichen selber feststellen können, wir haben es auch grundsätzlich mit einem blinden Fleck im Wissen über Reichtum und Reiche zu tun. Es fehlte uns lange Zeit an statistischen Daten oder Forschungen zu Reichtum.
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Soziologische Studien sagen, dass dies vor allem daran liegt, dass viele Reiche an den Schaltstellen der Gesellschaft säßen und kein Interesse daran hätten, dass Erhebungen stattfänden. Aber auch vonseiten der Politik können wir immer wieder eine gewisse Zurückhaltung in der Erhebung zum Vermögen feststellen. Bis in die 1960er- Jahre beispielsweise erhob das Statistische Bundesamt keine Statistiken über Einkommen oder Vermögen. Die Vermutung zeitgenössischer Medien war, dass die Unterschiede bewusst ausgeblendet wurden, um den Glauben an die gleichen Startbedingungen nach dem Zweiten Weltkrieg nicht ins Wanken zu bringen. Als dann Mitte der 1960er erstmals Daten zeigten, wie groß die Kluft war, wuchs auch gleich der politische und mediale Protest.
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In den USA scheint es genau andersherum zu sein. Da gibt es geradezu mythische Figuren vom großen Gatsby bis zum Wolf of Wallstreet, die ihren Reichtum zur Schau stellen.
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Es gibt eben ganz unterschiedliche Reichtumskulturen oder -mentalitäten, wie es die Forschung nennt. Dass der Umgang in Deutschland anders ist, hat auch damit zu tun, dass sich der Reichtum gegenüber der Gesellschaft immer stärker legitimieren musste. Dagegen war und ist der Rechtfertigungsdruck in den USA viel geringer. Hier galt und gilt Reichtum als Zeichen des Erfolgs und diente auch der Bekräftigung der Vorstellung von sozialer Mobilität. Dass Industrielle wie Rockefeller mit Öl, Vanderbilt mit Eisenbahnen oder Hearst mit Zeitungen reich wurden, stärkte den Mythos "Vom Tellerwäscher zum Millionär".
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In sozialen Medien kann jeder selbst bestimmen, wie er oder sie rüberkommen will
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Ein Versprechen, das es bis heute gibt und das gleichwohl für viele hohl ist.
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Es ist ein künstliches Versprechen, eine medial inszenierte Hoffnung. Es gab weder damals noch heute eine Chancengleichheit, die diese Hoffnung für viele rechtfertigen würde. Die Geschichten von Rockefeller, Vanderbilt und Hearst waren Geschichten einzelner Männer, die Medien gerne für die Erzählungen für die breite Masse nutzten.
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In den USA haben die reichsten 10 Prozent der Bevölkerung mehr als 50 Prozent des Gesamtvermögens. Und auch bei uns besitzen immer weniger immer mehr. Was bedeutet das für die Gesellschaft?
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Sie haben eigentlich zu jeder Zeit unterschiedliche Studien darüber, inwiefern die Kluft zwischen Arm und Reich größer wird oder abnimmt. In den 1950er-Jahren konstatierten Soziologen eine große soziale Mobilität, bekräftigten Ludwig Erhards Credo vom Wohlstand für alle. Andere hingegen widerlegten diesen sozialen Fahrstuhleffekt. Aufschlussreich ist, dass zu unterschiedlichen Zeiten ganz unterschiedlich über soziale Ungleichheit diskutiert wurde. Das hing immer auch von der gesellschaftlichen und ökonomischen Situation ab. Mit den ersten Rissen im Wirtschaftswunder um 1967 wurden dann auch verstärkt Studien veröffentlicht, die die Chancengleichheit in Frage stellten. Und solch eine Wahrnehmung von Ungleichheit führte schließlich zu einem größeren Legitimationsdruck. Die Politik reagierte mit einer großen Steuerreform, und gesellschaftliche Kräfte wie Kirche und Gewerkschaften diskutierten stärker über Bildungsfragen und forderten mehr Chancengleichheit.
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Geht mit Reichtum eine soziale Verantwortung einher?
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Schon die Entstehung der großen Industrievermögen ging mit der Gründung von Stiftungen oder kulturellem Engagement einher. Große Kunstsammlungen wie die von Thyssen waren nicht nur Investitionsmöglichkeiten, sondern ihre Aufgabe war es, zugleich kulturelle Schätze zu bewahren. Mit Kunstsammlungen und Museen war und ist aber immer auch Macht über Wissen darüber verbunden, was zu bewahren ist und was nicht.
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Auch die Art der Geschichtsschreibung kann durch solch eine Gründung bestimmt werden. Die Erbin des Wal-Mart-Konzerns in den USA hat zum Beispiel ein großes Museum zur amerikanischen Kunst gestiftet, bei dem manche kritisierten, dass die Kunst der indigenen Völker darin nicht vorkomme.
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Schon Herrscher wie August der Starke haben ihren Ländern durch ihren Kunstsinn zu großer kultureller Blüte verholfen, von der viele Regionen heute profitieren.
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Wenn sich Reichtum mit einem gewissen Freisinn verbindet, kann eine Gesellschaft sehr von Spendern und Stiftern profitieren. Aber Kritiker werden immer sagen, dass das alles im Eigeninteresse geschieht, um sich zu inszenieren und sein Vermögen zu vermehren. Vermögen en sind stets auf verschiedene Arten symbolisch aufgeladen, ihre Deutung liegt im Auge des Betrachters.
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Ein Beispiel für einen speziellen Umgang mit Geld ist Hamburg. Dort hält sich das wohlhabende Bürgertum viel zugute darauf, dass man sich gesellschaftlich engagiert und das Interesse der ganzen Stadt im Auge hat.
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In Hamburg empfinden viele Wohlhabende eine starke soziale Verantwortung für die Stadt, egal ob das Vermögen ererbt oder erarbeitet ist. Es gibt eine lange Tradition der Stiftungen und des Mäzenatentums. Dennoch engagiert man sich dort lieber im Hintergrund. Das mag viel mit einer bewussten Inszenierung des Hanseatischen zu tun haben, vielleicht aber auch damit, nicht Gefahr zu laufen, für seinen Einfluss kritisiert zu werden. Denn Reichtum impliziert immer Macht, immer Zugang zu Ressourcen, immer die Möglichkeit, über andere zu entscheiden. In einem Theaterstück von Volker Lösch am Hamburger Schauspielhaus wurden zu Beginn die Namen der 28 reichsten Hamburger verlesen. Lösch löste damit einen Theaterskandal aus, einige der Betroffenen klagten sogar dagegen.
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Dr. Eva Maria Gajek lehrt am Historischen Institut der Universität Gießen und hat zu unserem Thema bereits einiges erforscht. Unter anderem schreibt sie derzeit ein Buch über die "Geschichte des Reichtums von 1900 bis 1970".
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Fotos: Dougie Wallace / institute
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Ljuba heißt eigentlich anders, ihren Namen hat sie geändert, damit die Behörden sie nicht identifizieren können. Als sie im April 2021 per Zoom von solchen Erlebnissen berichtet, wirkt sie erschöpft: Eine Frau mit langen braunen Haaren und traurigen Augen erzählt davon, dass ein Mitstreiter von ihr verhaftet wurde, weil er eine kleine weiß-rot-weiße Schleife in sein Fenster gehängt hatte – die Farben der Opposition.
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Belarus oder Weißrussland, wie es lange genannt wurde, hat 9,4 Millionen Einwohner. Als ehemalige Teilrepublik der Sowjetunion ist es wirtschaftlich vor allem nach Osten orientiert. In der sowjetischen Folklore galten die Weißrussen immer als besonders reinlich, aber eher passiv, im Gegensatz etwa zu denaufsässigen Ukrainern.Wer vor dem August 2020 das Land bereiste, fand zumeist sehr gut gefegte breite Straßen und stille Menschen vor.
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Doch im Herbst und Winter 2020 erreichenBilder von Demonstrationen die Welt, friedliche Massenproteste Zehntausender, die weiß-rot-weiße Fahnen schwenken und demokratische Reformen fordern.Schon diese Proteste werden von brutaler Polizeigewalt überschattet, von Verhaftungen und Todesfällen. Aber immerhin kämpfen die Menschen noch. Mittlerweile aber, so beschreibt es der belarussische Schriftsteller Viktor Martinowitsch auf dem Medienportal budzma.by, gebe es "keine Nischen mehr", nicht einmal aufsässige Theaterstücke oder Lesungen regimekritischer Texte in Kellern. Sogar in der Sowjetunion, zu der Belarus bis zur Unabhängigkeit 1991 gehörte, hätten diese Freiräume existiert. Was in Belarus geschehe, sei der Versuch, "alles zu verbieten" – vor allem die Meinungen Andersdenkender. Seit Spätsommer vergangenen Jahres hat Ljuba an unzähligen Protesten teilgenommen. Vor allem die Bilder von Menschenketten, die nur von Frauen gebildet wurden, gingen um die Welt. Weiß gekleidet – als Zeichen des Friedens – standen sie den dunkel uniformierten Polizisten und Soldaten gegenüber, immer in Gefahr, geschlagen und verhaftet zu werden.
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Aber der Druck der Behörden hat sich in den vergangenen Monaten stetig erhöht. Inzwischen trifft sich Ljuba selbst in ihrem eigenen Hinterhof nur kurz mit Mitstreiterinnen; größere Proteste gebe es aktuell gar nicht mehr. Eine seltene Ausnahme sei zuletzt ein Protestzug von etwa 30 zumeist jungen Menschen gewesen. Ljuba schickt ein Video. Verglichen mit dem, was noch vor Monaten möglich schien, wirkt diese Demo wie ein letztes verzweifeltes Aufbäumen.
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Auch Julian musste aus Belarus fliehen – weil er spontan an einer Demo teilnahm.Hier lest ihr seine Geschichte
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Viele von Ljubas damaligen Mitstreiterinnen sind ins Ausland geflohen. Aus Angst davor, im Gefängnis zu landen oder eine Geldstrafe zu bekommen, die einem die Zukunft nimmt. Die belarussische Menschenrechtsorganisation Viasna gibt die Zahl der politischen Gefangenen Mitte Mai mit 404 an. "Viele werden weggesperrt, andere halten es nicht mehr aus und wandern aus, dazu kommt Corona." Auch Ljuba und ihre Familie haben eine Infektion durchlebt, zum Teil mit schweren Verläufen. "Da denkst du dann erst einmal nicht an Proteste."Die Behörden leugnen die Gefahren der Pandemie.Präsident Lukaschenko hat mal empfohlen, gegen das Virus Wodka zu trinken und Traktor zu fahren.
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Wie viele Menschen in Belarus an Corona erkranken, ist ebenso schwer zu benennen wie die Prozentzahl der Anhänger von Lukaschenko. Den gegenwärtig besten Eindruck vermittelt eine aktuelle Studie des "Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien" (ZOiS), die bilanziert, dass etwa 30 Prozent der Menschen in Belarus weiter den Präsidenten unterstützen.
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Schon vor den Protesten kannte das Land nur marginale Formen der Pressefreiheit. Mittlerweile ist es in der Rangliste der Reporter ohne Grenzen auf Platz 158 von 180 abgerutscht. Kein anderer Staat in Europa rangiert so weit hinten. Ende Mai wurde sogar ein Verkehrsflugzeug, das von Athen nach Litauen flog, von einem Militärjet gezwungen, in Minsk zu landen, damit der regierungskritische Blogger Roman Protasewitsch festgenommen werden konnte, der an Bord war.
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Auch für Journalisten aus dem Ausland werden Recherchen in Belarus immer schwieriger. Auf Presseanfragen aus dem Westen antworten die Behörden nicht mehr, es ist also unmöglich, die andere Seite der Geschichte zu hören. Gleichzeitig trauen sich Menschen kaum noch, mit den Medien zu reden. Die erste Protagonistin, um die es in diesem Text gehen sollte, wurde am Morgen vor dem Interview verhaftet. Ihr Aufenthaltsort ist ungewiss. Daher läuft auch die Kommunikation mit Ljuba nur verschlüsselt. Wenn sie das Haus verlässt, nimmt sie ihr Smartphone oft nicht mit, damit es der Polizei nicht in die Hände fällt – und mit ihm all ihre Kontakte.
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Trotzdem hat sich Ljuba entschieden, weiterzukämpfen – auch wenn ihr dramatische Konsequenzen drohen. Doch davon lässt sie sich nicht beirren. Neben der Organisation von Protesten verfasst sie mit Mitstreiterinnen Protestnoten an die EU oder die UN. Vor Kurzem ging im Namen von Folteropfern beim Generalbundesanwalt in Karlsruhe eine Strafanzeige gegen Lukaschenko ein. Ljuba ist noch jung, sie könnte weg, zumindest theoretisch: nach Litauen oder Polen etwa, die wichtigsten Exilorte belarussischer Oppositioneller. Der Grund, warum sie bleibt, ist nicht nur der Kampf gegen das Regime, sondern auch das Schicksal ihres Sohnes, der seit vier Jahren im Gefängnis sitzt. Er ist einer der in Belarus so genannten "Kinder 328", also ein Minderjähriger oder junger Erwachsener, der nach dem Paragrafen 328 verurteilt wurde, womit Drogendelikte geahndet werden. Weil er mit weniger als einem Gramm Spice, ein synthetisches Cannabinoid, erwischt wurde, bekam er zehn Jahre Lagerhaft.
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Kinder zu haben bedeutet für Ljuba, dass sie ein noch größeres Risiko eingeht, da sie nicht nur für sich selbst verantwortlich ist. Wenn sie festgenommen wird, könnte sie das Sorgerecht für ihre Tochter verlieren. "Das Regime weiß, dass es die Menschen am härtesten trifft, wenn es ihnen ihre Kinder wegnimmt." Neulich wurde sie von einer Lehrerin ihrer Tochter aufgefordert, Kritik an Lukaschenko aus ihren Social-Media-Kanälen zu löschen – sonst werde ihre Tochter "weggebracht".
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Sie fühle sich häufig ausgelaugt und leer, gerade in letzter Zeit, da es so aussehe, als würde Lukaschenko gewinnen. "Nachbarn sagen oft, dass ich Ruhe geben soll, sonst wäre ich auch bald dran", sagt Ljuba. "Aber wenn ich jetzt aufgebe, waren all die schlaflosen Nächte und die ganze Angst umsonst." Manchmal, in ihren dunkelsten Momenten, wolle sie schon aufgeben und ausreisen. Aber dann denke sie an ihren Sohn – und es geht weiter. "Dieses Regime nimmt uns alles", sagt Ljuba, "deshalb werden wir kämpfen."
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Man wolle kulturelle Teilhabe ermöglichen, begründete Festivalchef Dieter Kosslick die ungewöhnliche Vorstellung im Vorfeld. Der Berliner Justizsenator Dirk Behrendt, der in einer der vorderen Reihen sitzt, sagt, man könne mit solchen Screenings das Leben in Haft dem Leben in Freiheit ein Stück weiter angleichen. Auch Regisseur Lars Kraume ist gekommen. "Das schweigende Klassenzimmer", das heute in der JVA Tegel gezeigt wird, ist sein Film. "Ich bin hier, um Ihre Fragen zu beantworten", sagt er. Kurze Pause. "Wenn Sie welche haben." Der Abend wirkt wie eine unsichere Annäherung zwischen Häftlingen, Journalisten und Filmteam im Raum.
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Die sind nur zu Gast im Knast: Regisseur Lars Kraume mit dem Team des Film "Das schweigende Klassenzimmer", der im Rahmen des Berlinale-Kiez-Kinos in der JVA Tegel gezeigt wurde.
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Nach seinem Erfolgsfilm "Der Staat gegen Fritz Bauer" hat Kraume erneut einen Stoff der deutschen Nachkriegsgeschichte aufgegriffen. "Das schweigende Klassenzimmer" erzählt die wahre Geschichte einer DDR-Schulklasse, die sich 1956 mit den Demonstranten des Ungarischen Volksaufstands solidarisiert. Durch ihre Schweigeminute im Geschichtsunterricht gerät sie zwischen die Fronten der Politik.
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Viele Häftlinge ziehen an diesem Abend Parallelen des Filmes zu ihrem Leben. "Im Film herrscht so eine Unfreiheit, die herrscht hier auch", sagt einer in der Diskussion. Ein anderer meint : "Ich habe mich im Film der Macht ausgesetzt gefühlt und mich so ohnmächtig gefühlt, wie oft auch hier." Spätestens als der DDR-Bildungsminister, gespielt von Burghart Klaußner, in der Schule auftaucht und wissen will, wer der Kopf hinter der Schweigeminute ist, spitzt sich die Handlung zu. Mal werden die Schüler von ihren Eltern, mal von den SED-Funktionären ins Kreuzverhör genommen.
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Der Film wirft die ganz großen Fragen auf. Nach Schuld und Unschuld, nach Solidarität und Verrat, nach Lüge und Wahrheit. Im anschließenden Gespräch geht es verhaltener zu. Die meisten Fragen kreisen um die Zeit, in der die Geschichte spielt, und wie sie sich von heute unterscheidet.
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Ein älterer Insasse, der seine grauen Haare zum Zopf zusammengebunden trägt, schildert seine Erinnerungen an den Osten, wo er wie einige andere im Publikum geboren wurde. Viele der Gefangenen aus der Justizvollzugsanstalt in Brandenburg wurden auch nach der Wende in die JVA Tegel verlegt.
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Als Regisseur Lars Kraume den Saal verlassen will, fragt einer der Häftlinge nach einem Autogramm. Ein bisschen hat der Abend in der JVA Tegel vielleicht doch etwas von Berlinale und rotem Teppich, auch wenn unten am Eingang längst die Aufräumarbeiten begonnen haben, als die Journalisten den Saal verlassen. Eine der Justizvollzugsbeamtinnen bahnt sich den Weg durch die kleine Gruppe nach vorne: "Ohne Schlüssel kommen Sie hier nicht raus."
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Nikola Endlich
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Ein länger Gefängnisaufenthalt könnte auch den Juan und Wilson blühen, die im Wettbewerbsfilm "Museo" einen Kunstraub begannen haben. Ob sich der Film lohnt, das weiß unser rappender Rezensent Damian Correa.
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Größtenteils in geschlossenen Räumen spielt auch der Wettbewerbsfilm "In den Gängen" von Thomas Stuber. Allerdings im Großmarkt, nicht im Gefängnis. Einen kurzen Auftritt hat auch Stapelfahrer Klaus, der es 2001 bis auf die Filmfestspiele von Cannes schaffte. Und "In den Gängen"? Simone Ahrweiler würde sich freuen, wenn dieser so zärtliche Film rund um die Flurfördermittel einen Bären abräumen würde. Hier geht es zum Steckbrief.
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Ein lauter Knall beendet das hypnotische Spiel der polynesischen Trommeln : Wie disruptiv der französische Kolonialismus im südlichen Pazifik wirkte, das hört man schon nach wenigen Minuten des Films "Ma'Ohi Nui, in the heart of the ocean my country lies". Der Knall kommt von einem Atomtest. Von 1966 bis 1996 zündeten die Franzosen 193 Bomben, 46 davon oberirdisch. Was das für das Volk der Ma'ohi bedeutete, die auf den umliegenden Atollen lebten, das erzählt der Film von Annick Ghijzelings so eindrucksvoll wie bedrückend.
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Ihr Film erzähle die Geschichte von zwei Kolonialisierungen, sagt die belgische Regisseurin bei der Premiere. Die Erste war militärisch, die Zweite leiser, aber nicht weniger folgenschwer. Durch die wirtschaftliche Hilfe, die die Ma'ohi nach ihrer Umsiedlung erfahren haben, hätten sie sich von ihren Traditionen entfremdet. Viele wohnen auf Tahiti in Wellblechhütten genau neben der Landebahn des Flughafens. Die ehemals großen Seefahrer haben ihre Traditionen vergessen. Sie fahren nicht mehr mit ihren Booten über die Atolle, sie fischen nicht, betreiben keine Landwirtschaft mehr, haben ihre Sprache verlernt. Zur kulturellen Entwurzelung kam die ökonomische: Sie haben ihre traditionelle Lebensgrundlage verloren und hangeln sich von Job zu Job, wenn sie denn einen bekommen. Zaghaft findet auch eine Rückbesinnung statt. Doch ein leichter Weg ist das nicht. Denn der Schatten des Kolonialismus ist lang.
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Festivals sind Ausnahmezustand. Man schaut drei oder vier, manchmal fünf Filme an einem Tag, und, zugegeben, vieles hat man auch schnell wieder vergessen. In Erinnerung bleiben oft Szenen, in denen der Soundtrack besonders stark zum Tragen kommt. Deshalb hier unsere ganz persönlichen Soundtrack-Hits der Berlinale – und warum wir uns an die Momente in den Filmen erinnern werden.
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The West Coast Pop Art Experimental Band: I Won't Hurt You(aus "Isle of Dogs" von Wes Anderson)
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Was wäre Wes Anderson ohne seine Soundtracks? Auf der Kultskala von Filmnerds kommen sie jedenfalls nur knapp hinter denen von Quentin Tarantino. Was dabei nie fehlen darf: Ein verträumter Psychedelic-Track aus den späten Sixties. In "Isle of Dogs" wird "I Won't Hurt You" sogar zum Leitmotiv. Immer wenn Atari und die Hunde-Gang zur nächsten Etappe ihrer Reise aufbrechen, setzt der Song ein.
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Gianni Bella: Questo Amore Non Si Tocca(aus "Figli mia – Daughter of Mine" von Laura Bispuri)
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In "Figlia mia" ist Vittoria zerrissen zwischen ihrer Adoptivmutter und ihrer leiblichen Mutter Angelica, die sie nach der Geburt fortgab. Eine Annäherung an Angelica, einer impulsiven Draufgängerin, entwickelt sich erst nur zögerlich – bis die beiden miteinander tanzen. Aus dem Autoradio plärrt ein schlüpfriger Italoschlager, Angelica singt inbrünstig mit und Vittoria entdeckt, das sie auch kein Kind von Traurigkeit ist. Einen Ausschnitt der Szene gibt's hier.
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Talking Heads: Road to Nowhere(aus "Transit" von Christian Petzold)
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Christian Petzold setzt nur spärlich Songs in seinen Filmen ein. Aber wenn, dann haben sie auch was zu erzählen. In "Transit" geht es um den Schwebezustand auf der Flucht in ein anderes Land, um die Ungewissheit, wohin es gehen wird. Das Ende bleibt offen und mit der Schwarzblende setzt passend "Road to Nowhere" ein. Der Song habe mit seinen Gospel-Anklängen aber auch etwas Tröstliches, findet der Regisseur.
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Stromae: Alors on danse(Aus "Première Solitudes" von Claire Simon)
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"Première Solitudes" (etwa: "erste Einsamkeiten") ist ein kleiner Dokumentarfilm, den Claire Simon mit einer Schulklasse aus einem Pariser Vorort gedreht hat. Der Film zeigt die Kids auch auf dem Weg zur Schule, wie es heute eben alle machen: Ohrstöpsel rein, Lieblingssong einschalten, Welt kurz mal ausschalten. Besonders wichtig war der Filmemacherin, dass "Alors on danse" von Stromae im Film ist. Der erzähle quasi die Geschichte einer Protagonistin: Scheidung der Eltern, Geldsorgen, Gerichtsvollzieher vor der Tür – aber eine trotzige Lust aufs Leben.
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ACDC: Hells Bells(aus "Khook – Pig" von Mani Haghighi)
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Hasan, ein iranischer Filmemacher mit Berufsverbot, hat einen ziemlich eindimensionalen Style: Er trägt jeden Tag Band-T-Shirts, und zwar ausschließlich von den klischeehaftesten Rockbands, die man sich so vorstellt: AC/DC, Kiss, Black Sabbath. Als er an einer Stelle des Films im Knast landet, wird es surreal. Auf dem Boden liegt ein rot leuchtender Tennis-Schläger, mit dem Hasan plötzlich Gitarre spielt. Das Riff von "Hells Bells" setzt ein und Hasan singt auf Persisch selbstmitleidig, wie schlecht es die Welt schon wieder mit ihm meint.
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Wang Chung: To Live and Die in L.A.(aus "To Live and Die in L.A." von William Friedkin)
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Eine Wiederentdeckung der Berlinale, dank der "Hommage" an Willem Dafoe: Der Polizei-Thriller "To Live and Die in L.A." von William Friedkin aus dem Jahr 1985. Fitness-Studios, schmierige Erotikbars, VHS-Rekorder, Föhnfrisuren und Neonfarben – mehr Eighties als in diesem Film geht kaum. Fehlt nur noch treibender Synthie-Pop auf der Tonspur? Check. Die britische Band Wang Chung hat den kompletten Soundtrack geschrieben.
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Franco Battiato: L'animale(aus "L'animale" von Katharina Mueckstein)
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Gegen Ende von "L'animale" gibt es eine eindringliche Szene. Die betrogene Mutter, der ängstliche Vater, die verlassene Tochter, ihr wütender Freund und ihre noch wütendere Freundin erleben parallel einen Moment der totalen Verzweiflung und singen gemeinsam das Lied von Franco Battiato, das dem Coming-of-Age-Film seinen Titel gibt. Die Kritiken zu dieser surrealen Szene schwanken zwischen kitschig und wunderschön. Sicher ist, dass eseine sehr ähnliche Szeneschon mal gab, nämlich 1999 im Drama "Magnolia" von Paul Thomas Anderson).
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Jan-Philipp Kohlmann und Christine Stöckel
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Heute das große Finale, das allerletzte Quiz. Mindestens für die nächsten 51 Wochen. Wie immer gilt: zwei dieser drei Filme laufen, so schräg das klingen mag, tatsächlich auf der diesjährigen Berlinale. Einen haben wir erfunden. Welcher ist es?
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Apartament nr. 32(von Dorinel Corduneanu, Rumänien 2018)
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Wenn Bogdan einsam ist, steigt er auf das Dach seines Plattenbaus und blickt über die Dächer von Bukarest. Eines Tages sitzt dort eine fremde Frau, Mihaela. Sie ist in Wohneinheit Nr. 32 gezogen, in der zuvor ein greiser Spitzenfunktionär der Partidul Comunist Român lebte. Die von vielen Missverständnissen begleitete Annäherung von Bogdan und Mihaela reflektiert den schwierigen Selbstfindungsprozess der postkommunistischen rumänischen Gesellschaft.
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Yours in Sisterhood(von Irene Lusztig, USA 2018)
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Frauen unterschiedlicher Hintergründe und Herkunft lesen und kommentieren Briefe, die in den 70er Jahren an das liberal-feministische Magazin "Ms." gingen. Irene Lusztig gelingt es in ihrer dokumentarischen Inszenierung, einen Fundus der Frauenbewegung in eine vielschichtige Beziehung mit der Gegenwart zu bringen. Das Wort steht dabei nur vermeintlich im Vordergrund. Dem Publikum ist es überlassen, einen feministischen Kosmos zu entdecken.
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An Elephant Sitting Still(von Hu Bo, China 2018)
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In der nordchinesischen Stadt Manzhouli soll es einen Elefanten geben, der einfach nur dasitzt und die Welt ignoriert. Manzhouli wird zur fixen Idee für die Helden dieses Films, zum erhofften Ausweg aus der Abwärtsspirale, in der sie sich befinden. Hu Bo, der in China bereits mit seinen Romanen Aufsehen erregte, gibt mit diesem vierstündigen Porträt einer Gesellschaft von Egoisten sein elektrisierendes Regiedebüt.
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Michael Brake
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Und für alle Willensstarken, die beim letzten Quiz vom Donnerstag dem Googledrang widerstehen konnten: No me olvides war eine Erfindung. Über einen Besuch von Alejandro González Iñárritu auf der Berlinale würden wir uns aber wirklich sehr freuen!
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Was gestern so los war auf der Berlinale? Das erfahrt ihrhier.
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Es ist ja schön, dass zu den Filmen der Generation 14Plus immer viele Jugendgruppen kommen. Aber dann doch bitte um den Film zu sehen und nicht, um die ganze Zeit zu quatschen.
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Das hat mich berührt
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Marie Bäumer als Romy Schneider in "3 Tage in Quiberon". Als das Licht im Saal wieder anging, hatte nicht nur die Schauspielerin Tränen in den Augen – ich auch. Noch nie hat mich ein Schauspiel so berührt. Ich warte jetzt schon sehnsüchtig auf den regulären Kinostart. (12. April)
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Das hab ich gelernt
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Dass der Gang über den roten Teppich nicht für alle selbstverständlich ist – Cast & Crew von "High Fantasy" aus Südafrika bedankten sich nach der Premiere herzlich dafür. Diese Natürlichkeit und Bodenständigkeit geht im Berlinale-Glamour ansonsten doch ein wenig unter.
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Okay, das ist unfair. Ich mag: Animationsfilme. Filme mit Tieren. Filme, die in Japan spielen. Und Filme von Wes Anderson. "Isle of Dogs" ist alles vier auf einmal und dazu noch liebevoll bis ins kleinste Detail, wahnsinnig lustig, rührend, spannend und nicht zu lang. Den schau ich mir im Mai nochmal beim normalen Kinostart an.
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Greatest Shit
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Der schwedische Wettbewerbsbeitrag "Toppen av ingenting" über eine schrille Hauserbin war mir zu laut, zu anstrengend, zu bemüht schrill und provokant und nicht richtig zu Ende gedacht.
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Das hat mich berührt
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Wie die Videokünstlerin Margaret Honda ganz allein in ihrer 36-Stunden-Echtzeit-Kinoprojektor-Testbildgenerator-Installation "6144 x 1024" saß, versteckt in einem Nebensaal und praktisch nicht beworben. Ich hoffe, ich habe einfach nur zwei schlechte Momente erwischt, und sonst war es voller.
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Das habe ich gelernt (schmerzhaft und immer wieder):
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Es reicht nicht, einfach pünktlich zu sein, wenn man einen Berlinale-Film sehen will. Man sollte mindestens zehn Minuten vorher da sein, lieber noch früher. Außer, man sitzt gern in der ersten Reihe.
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Greatest Hit
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Easy: die RAP-Zensionen von Damian Correa zu "Isle of Dogs", "Denmark", "Gülvercin" und "Museo". Ok, die sind natürlich außer Konkurrenz, aber vielleicht laufen sie ja nächstes Jahr bei den Berlinale Shorts? Ansonsten: "In den Gängen", der zärtlichste Film, der je über Gabelstapler gedreht wurde.
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Greatest Shit
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Einige. Nur einmal zum Street Food Markt geschafft, "Chef Flynn" verpasst, in "Ma Oui Nui" kurz nach der Eingangsmusik eingeschlafen und erst zum Abspann wieder aufgewacht, in einer herumliegenden BZ gelesen, dass es Profi-Lamentierer Gunnar Schupelius ernsthaft als Aufreger empfand, dass es auf dem Berlinale Abschlussdinner keine Currywurst serviert wird. So 1970er...
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Das hat mich berührt
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Eröffnungsfilm der Generation 14Plus, "303": Als Jule und Jan nach gut zwei Stunden Filmzeit, tausenden von Kilometern Busfahrt und hunderten von aufgesagten Skriptseiten endlich mal knutschen, da brandet im Publikum spontaner Szenenapplaus auf.
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Das hab ich gelernt
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Während des Zweiten Weltkriegs wurden auch in der neutralen Schweiz die Nahrungsmittel rationiert. Das Brot, das verkauft wurde, war zwei Tage alt, damit man es nicht zu schnell isst. Gelernt in der ebenfalls berührenden, weil ganz persönlich erzählten Flucht-Dokumentation "Eldorado" von Markus Imhoof.
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Greatest Hit
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Shout-out an die beiden so unterschiedlichen deutschen Wettbewerbsfilme von Christian Petzold und Thomas Stuber: "Transit" (Kinostart: 5. April) schlendert als Genrefilm verkleidet auf der Flucht vor den Faschisten durchs heutige Marseille und "In den Gängen" (Kinostart: 26. April) entdeckt die anmutige Eleganz der Gabelstapler.
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Greatest Shit
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Die Missbrauchsvorwürfe gegen Kim Ki-Duk versandeten in einer halbgaren Debatte mit dem südkoreanischen Filmemacher. Sein Film "Human, Space, Time and Human" aber ist eine so frauenfeindliche und stumpfsinnige Gewaltparabel, dass seine Einladung nach Berlin auch deshalb ärgerlich war.
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Das hat mich berührt
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Ein Dokumentarfilm-Moment: In "Premières solitudes" bringen zwei Mitschülerinnen einen schüchternen Jungen zum Reden. Wie heftig seine Mundwinkel zucken und eine Riesenträne langsam kullert, wenn er von der Abwesenheit des Vaters spricht, könnte kein Schauspieler der Welt so spielen. Herzallerliebst auch, wie die Mädels ihn dann trösten.
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Das hab ich gelernt
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Im Dokumentarfilm "I See Red People" erfährt man, dass Filmkritiker im kommunistischen Bulgarien, die damals auf internationale Festivals fahren durften, vermutlich Spitzel der Geheimpolizei waren. Ja nun. Was glaubt ihr eigentlich, was ich auf der Berlinale neben den paar Blogeinträgen so mache?
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Greatest Hit
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Wie die Fußballtrainerin in der norwegischen Serie "Heimebane" fünf Mal hintereinander die Torlatte trifft – das ist gewollt – und damit ihren Schauspielerkollegen John Carew abzieht. Der trifft nur dreimal. Eine schöne Szene, zumal Carew mal Nationalspieler war.
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Greatest Shit
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Die Rückenlehnen im Zoo Palast. (Die kann man nicht feststellen, so dass man plötzlich ruckartig wie auf dem Zahnarztstuhl liegt, Anm. d. Red.)
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Hat mich berührt
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Vor allem eine Szene aus der Dokumentation "Soufra". Der Film spielt in einem Flüchtlingscamp im Libanon und zeigt Mariam Shaar, wie sie mit einem dutzend anderer Frauen ihren eigenen Cateringservice aufzieht. Über anderthalb Jahre muss sie, davon handelt der Film hauptsächlich, auf einen eigenen Foodtruck warten. Für Flüchtlinge ist es schwer, eine Lizenz zu bekommen. Als es dann nach langem Warten soweit ist, sitzt Mariam Shaar im Auto, strahlt übers ganze Gesicht, drückt aufs Gas, nimmt einen Bordstein mit und düst zu ihren Frauen.
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Wieder was gelernt
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Bevor man einen Truthahn in den Ofen schiebt, sollte man ihn in seine Einzelteile zerlegen. Denn jedes Teil braucht unterschiedlich lang. Ich koche zwar sehr selten Truthahn, also eigentlich nie, trotzdem danke dafür, Flynn McGarry.
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Gestern abend wurden auch noch die Bären verliehen, was in diesem Jahr durchaus für Spannung sorgte, liefen doch sehr viele gute Filme im Wettbewerb. Die Entscheidung der Jury um Tom Tykwer war dann eine ziemliche Überraschung. Den Goldenen Bären bekam der semifiktionale rumänische Beitrag "Touch me not". In ihrem Debütfilm fragt die Regisseurin Menschen mit unterschiedlichen seelischen und körperlichen Beeinträchtigungen nach ihrem Sexleben sowie ihren Ängsten und Sehnsüchten. Der Film erhielt eine ziemlich gemischte Resonanz. Bei der Pressevorführung verließen zahlreiche Journalisten die Vorführung. Alle Ergebnisse der Jury um Tom Tykwer gibt eshier,und was wir so die letzten Tage auf der Berlinale erlebt haben, das könnt ihrhierlesen.
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Titelfoto: Daniel Seiffert
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Dann entwickelt der Film einen eigenartigen Sog. Die Tänzerinnen wie Egypt und Mahogany sind Szenestars, bei ihren Auftritten werden sie von den Frauen im Publikum mit Dollarscheinen beworfen. Ronnie Ron, Stud-Lesbe und Profi am Mikro, heizt als flamboyante Gastgeberin die Party an. Und als irgendwann die Polizei den Laden hochnimmt – obwohl er die nötige Lizenz hat – will auch der letzte weiße cis-männliche Hetero auf die Barrikaden gehen. #Ungerecht!
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Regisseurin Leilah Weinraub war, wie sie in dem Q&A nach der Premiere sagte, jahrelang bei den Partys mit ihrer Kamera dabei. Später betrieb sie das New Yorker Modelabel Hood by Air, das mit seinen geschlechtsneutralen Looks für Furore sorgte und das von Hiphop-Größen wie A$AP Rocky gerne getragen wird. Shakedown ist ihr Debütfilm. Und für solche Filme wurde die Berlinale quasi erfunden. Die wilde Mischung passt zu Berlin. Und Berlin steht auf solche Filme. Die Premiere von Shakedown war sofort ausverkauft, die übrigen Vorstellungen auch. In Cannes und Venedig, deren Festivals die 79 Filmschaffenden als Vorbilder für eine Berlinale nach Kosslick zitieren, da laufen solche Filme wohl kaum.
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Felix Denk
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Dieser Song, den Blumfeld auf ihrem Album Testament der Angst singen, sorgt in Christian Petzolds Wettbewerbsfilm "Transit" für eine bewegende Szene. Georg, gespielt von Franz Rogowski, ist auf der Flucht vor den Nazis. In Marseille wartet er darauf, weiter zu kommen. Dort lernt er den Jungen Driss kennen, den Sohn eines verstorbenen Freundes. Wie Georg dem Jungen das Gute-Nachtlied vorsingen will, ist ganz großes Schauspielerkino, findet Jan-Philipp Kohlmann.Hiergeht es zu seinem Steckbrief.
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Der Film Profile von Timur Bekmambetov ist gleich in zweifacher Hinsicht ungewöhnlich. Einmal thematisch. Es geht um den realen Fall einer Journalistin, die sich bei einer Recherche in einen IS-Kämpfer verliebt, mit dem sie dann zärtlich Katzen-GIFs hin- und herschickt, aber auch formal: Er spielt komplett auf einem Computerbildschirm. Und, ja, das funktioniert, findet Michael Brake.Hiergeht es zu seinem Steckbrief.
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Ist ja schön, dass auf der Berlinale so viele tolle Filme laufen. Aber was bringt mir das, wenn ich gar nicht in Berlin wohne? Wie, naja, so ziemlich alle. Oder wenn die Tickets mal wieder in Sekundenschnelle vergriffen waren? Für alle derart Gepeinigten gibt es dieses Jahr erstmals ein kleines Streamingangebot. Bis zum 28. Februar können acht Filme aus dem Berlinale-Programm beiFestival Scopefür 3 Euro pro Film abgerufen werden. Allerdings nur von jeweils 300 Menschen, mehr Plätze bietet der virtuelle Kinosaal aus unerfindlichen Gründen nicht. Und auch nur von deutschen IP-Adressen (oder: und auch nur in Deutschland). Aber hey, immerhin!
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Mit dabei ist unter anderem der tolle argentinische Dokumentarfilm "Theatre of War", der sich mit dem Krieg um die Falklandinseln beschäftigt – 74 Tage dauerte der Konflikt um die unwirtlichen Inseln im Südatlantik im Frühjahr 1982, über 900 Soldaten kamen ums Leben.
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Man merkt, dass die argentinische Regisseurin Lola Arias aus der Kunst- und Theaterszene kommt, denn ihre Herangehensweise ist so ungewöhnlich wie aufregend: Sie hat sechs Kriegsveteranen, je drei britische und drei argentinische, mehrere Wochen zusammengebracht. Ihre Erinnerungen und Geschichten erzählen sie in perfomancehaften Situationen, mit Margaret-Thatcher-Masken, in einem Schwimmbad, nachgestellt mit Modellbaufiguren. So entstehen Bilder von künstlerischer Schönheit, wie man sie in einer Kriegsdokumentation genau nicht erwartet – und deren Wucht und Ideenreichtum zeigen, wie man "Oral History" auch anders als nach dem Prinzip "sprechende Köpfe vor dunklem Hintergrund" inszenieren kann.
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Michael Brake
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Die Berlinale wäre nicht die Berlinale ohne...Hong Sang-soo.
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Beruf:Regisseur & Kaffeehaus-Poet des Kinos.
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Auffallende Merkmale:Äußerlich ist das schwierig: Er ist Ende 50, trägt Schnurrbart, kurze graue Haare und spricht – selbst mit Mikrofon – sehr leise. Aber man weiß allerspätestens nach zwei Minuten, dass man wieder in einem seiner Filme sitzt.
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Warum braucht ihn die Berlinale?Weil der Südkoreaner in jedem Jahr mindestens einen Film macht, der aus den folgenden, bestechend einfachen Zutaten besteht: einem Kaffeehaus, Männern & Frauen, Trauer & Selbstmitleid, Witz & Spott, Kino & Schauspiel sowie mindestens einer Szene, in der sich die Protagonisten mit dem Reisschnaps Soju gegenseitig unter den Tisch trinken. Sein diesjähriger Berlinale-Beitrag heißt "Grass".
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Und was sagt er selbst?"Ich stehe um vier Uhr auf und fange an, Dialoge zu schreiben. Ich weiß noch nicht, worum es gehen wird, verlasse mich ganz auf spontane Einfälle. Am Vormittag entwickle ich die Szenen mit den Schauspielern, dann drehen wir. Bei meinem neuen Film haben wir vier Tage gedreht und drei Tage geschnitten. Nach einer Woche war der Film also fertig."
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Jan-Philipp Kohlmann
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fluter/Berlinale-Blog-2018-tag6.txt
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Dabei fallen im Tipi einige wichtige Sätze. Die Vorwürfe der Vergewaltigung von Schauspielerinnen in den USA und in Deutschland – gegen Harvey Weinstein und Dieter Wedel – werden auf der Bühne als Machtmissbrauch verurteilt. Solche Taten dürfen sich nicht hinter "künstlerischer Freiheit und Genie" verstecken, erklärt Familienministerin Katarina Barley gleich am Anfang der Veranstaltung. Moderatorin Verena Lueken von der F.A.Z. fragt: Wie kann sexuelle Gewalt verhindert werden? Brauche es einen Verhaltenskodex am Set?
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"Über ein paar Dinge muss man reden", sagt Schauspielerin Jasmin Tabatabai. "Vor allem mit jungen Frauen. Wenn man besetzt werden will, gibt es da diesen Gott, das ist der Regisseur und dem muss man gefallen. Da sollte es Regeln geben, was okay ist und was nicht. Castings zum Beispiel müssen nicht auf Hotelzimmern stattfinden", erklärt Tabatabai.
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Plötzlich wird es laut im Zelt. Mehrere Frauen (und wenige Männer) der rechtsextremen "Identitären Bewegung" entfalten auf der Bühne ein Transparent und versuchen, #Metoo für eine ihrer rassistischen Kampagnen zu nutzen, die Migranten pauschal für sexuelle Übergriffe auf Frauen verantwortlich macht. Nach einiger Verwirrung und vielen Buhrufen verlassen sie den Saal. Wie mit dieser Situation umgehen? Dazu gibt es gespaltene Meinungen: "Das sind junge Frauen, die denken, sie würden unsere Kultur retten. Ich würde gerne mit ihnen in den Dialog kommen", erklärt Barbara Rohm, Mitbegründerin von Pro Quote Film e. V.. "Wir sollten denen auf gar keinen Fall eine Bühne bieten! Mit denen reden wir nicht", rufen vereinzelt ZuschauerInnen.
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Die Moderatorin lenkt das Gespräch wieder in Richtung der eigentlichen Debatte: die Schieflage von Machtverhältnissen in der Branche. Die nicht-paritätische Verteilung von Jobs an Männer und Frauen ist einer der Gründe dafür. Es arbeiten mehr Männer in Schlüsselpositionen. 72 Prozent der Kinofilme werden von Regisseuren gemacht,so eine Studie der Filmförderungsanstalt (FFA) von 2017.
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Die Geschlechterverteilung von Filmschaffenden ist ein wichtiges Thema und ein wichtiger Bestandteil der #Metoo-Debatte. An dieser Stelle aber eine Ablenkung von anderen Themen. Kaum ein Wort fällt über konkrete Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs, über den Umgang mit Gewalt am Set und über das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Die Vorwürfe der Vergewaltigung, sexueller Nötigung und Demütigung, die mehrere Frauen etwa gegen den deutschen Regisseur Dieter Wedel erheben, bleiben unkommentiert. Obwohl mit Thomas Kleist der Intendant des Saarländischen Rundfunks (SR) auf der Bühne sitzt. Auch während einer Produktion des SR vor ungefähr 40 Jahren soll es zu Übergriffen durch Wedel gekommen sein.
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Die Berlinale und #Metoo – das ist ein schwieriges Verhältnis. Es wurde einiges unternommen: Im Vorfeld sollen Filme von Regisseuren, die Machtmissbrauch und sexuelle Übergriffe begangen haben, nicht ins Programm aufgenommen worden sein. Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) kündigte an, eine Anlaufstelle für Missbrauchsopfer aus der Kreativbranche finanzieren zu wollen. Die Berlinale gibt der Initiative #Speakup viel Raum, die Betroffene von sexueller Belästigung in der Filmbranche ermutigt, ihre Stimme zu erheben. Das ist sind alles gute Zeichen.
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Trotzdem fehlt ein starkes, öffentliches Symbol der Solidarität mit SchauspielerInnen und anderen Frauen, die sexuelle Gewalt erfahren haben. Das traut man sich nicht. Kein schwarzer Teppich wie bei den Golden Globes.Fragen zu #Metoo an SchauspielerInnen werden von PR-Leuten auf der Berlinale schnell abgewürgt. Umstritten auch dieEinladung des koreanischen Regisseurs Kim Ki-duk, gegen den ein sexueller Missbrauchsvorwurf erhoben wurde, den er selbst allerdings bestreitet.
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Auch im Tipi findet die Solidaritätsbekundung nicht auf der Bühne, sondern davor statt. Viele SchauspielerInnen, RegisseurInnen, DrehbuchautorInnen, Masken- und KostümbilderInnen stehen nach der Veranstaltung beieinander, tauschen Erfahrungen aus, sind wütend. Vielleicht hätten sie auf der Bühne sitzen sollen.
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Christine Stöckel
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Die deutsche Filmkritik ist sich relativ einig: "Utoya 22. Juli", der norwegische Wettbewerbsfilm über die Terroranschläge von 2011, geht für die meisten Kritikerinnen und Kritiker gar nicht. Nach der Pressevorführung war der Gesamteindruck allerdings ein anderer. Applaus und Buhrufe hielten sich die Waage. Auf der Pressekonferenz erhielt Regisseur Erik Poppe Gratulationen, meist von internationalen Kollegen. Der Film ist die erste große filmische Kontroverse der Berlinale. Jan-Philipp Kohlmann ihn gesehen – und zweifelt zwar nicht an den guten Absichten Poppes, sehr wohl aber an der filmischen Umsetzung.Hier gehts zum Steckbrief.
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Und weiter geht's mit dem Fake-Film-Quiz. Gut die Hälfte der 385 Filme, die auf der Berlinale laufen, hatten jetzt Premiere. Aber nur zwei von den Filmen in der Kurzbeschreibung unten laufen auch auf der Berlinale. Welcher ist von uns erfunden?
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Dikkertje Dap (Niederlande / Belgien / Deutschland 2017)"Dikkertje Dap" – aus einem der berühmtesten Kindergedichte der Niederlande entspinnt sich eine fantasievolle Geschichte um den Wert und den Wandel einer ungewöhnlichen Freundschaft. Dikkertjes bester Freund hat große, dunkle Augen, einen superlangen Hals und weiches, hell geflecktes Fell: Er heißt Raf, kam am selben Tag wie Dikkertje zur Welt und ist eine sprechende Giraffe. Nun werden die beiden vier Jahre alt und ihr erster Schultag steht bevor. Das zumindest hat Dikkertje versprochen. Doch in der Schule sind Tiere nicht erlaubt.
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El otoño (Spanien / Portugal 2018)Maria und Sophia werden bald 80 Jahre alt. Ihre Männer sind vor Jahren gestorben. Die beiden Schwestern haben das Alleinsein satt – und gründen gemeinsam eine WG. Schnell wird aus dem Duo ein Trio. Die quirlige Nachbarin Dana bringt Einkäufe und wäscht die Wäsche. Eines Tages erstellt Dana zwei Online-Datingprofile für die Schwestern und bekommt überraschend Antwort. Was folgt, ist ein Roadtrip in farbenprächtigen Bildern. Die drei Frauen fahren in einem limonengrünen Oldtimer ins nahe Madrid, wo zwei Rendezvous auf Maria und Sophia warten. Regisseurin Elena Barnal zeigt, dass der Herbst des Lebens noch lange nicht sein Ende bedeutet.The Green Fog (USA / Kanda 2017)Die Prolog von "The Green Fog": Ein Schalter wird von "Sprechen" auf "Zuhören" gedreht. In einem Studiokino betrachtet ein Mann in Handschellen und von einer Waffe bedroht Bilder auf der Leinwand. Eine Landkarte ist zu sehen, ein Finger zeigt auf San Francisco. Vor einem Haus stehen Reporter, die verängstigte Bevölkerung wartet auf Lautsprechernachrichten. In grünes Licht getaucht erscheint die Golden Gate Bridge. Die Struktur des Films ist eine Hommage an Hitchcocks "Vertigo": eine schwindelerregende Komposition vertrauter und unbekannter Film- und TV-Bilder.
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Ein deutscher Film über sinnliches Begehren mit John Malkovich und eine Rock-Oper aus dem philippinischen Urwald? Hört sich ausgedacht an? Ist es aber nicht: "Casanovagen" (Forum) und "Season of the Devil" (Wettbewerb) laufen tatsächlich auf der Berlinale. In letzteren hat Jan-Philipp Kohlmann mal "reingeschaut". Während er beim letzten Berlinale-Film des Philippinen Lav Diaz, einem achtstündigen Historienepos, noch echtes Sitzfleisch besaß, kapitulierte er diesmal nach beschämenden anderthalb Stunden. Zwar ist "Season of the Devil", wieder ein Historienfilm über die Marcos-Diktatur, nur schlappe vier Stunden lang, aber die dauernden A-cappella-Einlagen haben ihm den letzten Nerv geraubt.
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JPK
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Auch gestern lief so manches auf der Berlinale. Darüber liest Duhier
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fluter/Berlinale-Blog-2018-tag9.txt
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Wie wir reden können
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Da wäre zum Beispiel "Aggregat" von Marie Wilke, eine Bestandsaufnahme zur Lage der Nation. Zum Forum des Dialogs wird dieser Film über Diskurs und Demokratie(-Krise), indem er Orte in Deutschland aufsucht, an denen diskutiert wird: den SPD-"Küchentisch" für Bürgerbeteiligung, das Bundestagszelt auf dem Tag der deutschen Einheit, Redaktionssitzungen von Rundfunk und Zeitungen und eine Pegida-Demo gegen die "Lügenpresse". Wilkes will sich dabei nicht einmischen, filmt aus der Distanz und registriert das Reden miteinander, das Aneinander-vorbei-Reden und das Reden übereinander. Die Szenen sind teils erhellend, teils bitter, manchmal aber auch witzig – und wir lernen: Wer anderen Argumenten wirklich zuhört und selbst beim Thema bleibt (Stichwort: Whataboutism), der macht schon mal einiges richtig.
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Filme, die eng mit ihren Protagonisten arbeiten, bringen den Dialog hingegen durch geschickte Methoden selbst hervor: In "Premières solitudes" schafft Claire Simon eine Bühne für Jugendliche einer sozial durchmischten Pariser Schulklasse, indem sie "Begegnungen" an Schul- und Freizeitorten inszeniert und die Teenager über zuvor verabredete Themen sprechen lässt. Das Verblüffende: In diesen "konstruierten" Situationen entspinnen sich ganz natürliche Gespräche, die Teenager überwinden ihre Hemmungen, sprechen offen über Herkunft, Konflikte mit den Eltern, Lebensentwürfe. "Theatre of War" (Blog vom 19.02.) spitzt diese Methode noch zu, wenn argentinische und britische Veteranen des Falkland-Krieges in künstlichen Studiokulissen umfangreich geprobte Gespräche "aufführen" – oder sich am Bartresen über die kleinteiligen Regieanweisungen von Lola Arias aufregen.
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Worüber wir reden müssen
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Nicht selten sorgt eine unaufgeklärte nationale Vergangenheit für den strittigsten Gesprächsstoff. Dabei können Filmemacher einen persönlichen Zugang zur Geschichte wählen, wie etwa Bojina Panayotova, die in "I See Red People" ihre Eltern penetrant mit deren Rolle im Spitzelsystem des kommunistischen Bulgarien konfrontiert. Es kann ein Fallbeispiel sein wie die österreichische Präsidentschaftswahl 1986, in deren Zusammenhang "Waldheims Walzer" das Verhältnis des Landes zum Nationalsozialismus auslotet. Die Aufnahmen von aufgebrachten Debatten, die Menschen auf dem Stephansplatz über historische Schuld führen, hat Ruth Beckermann in den Archiven gefunden. Dass es für solche Prozesse nationaler Selbstfindung einen langen Atem braucht, zeigt ein Film über die Nachwehen des Militärregimes in Uruguay (1973-1985): Nur "One or Two Questions" über den Umgang mit der Diktatur stellten zwei Frauen in den 1980er-Jahren den Passanten auf der Straße – der Film dauert 237 Minuten.
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Jan-Philipp Kohlmann
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In Teil 3 unserer RAP-Zensionen sieht Damian Correa den türkischen Film "Güvercin", in dem es ziemlich lange vor allem um Tauben geht. Bis dann doch das dicke Ende kommmt.
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Kurzer Besuch bei den Talents, dem Berlinale-Nachwuchscampus für Filmschaffende. Hier treffen wir Anne Haug, die dieses Jahr bei dem Programm dabei war. Die 33-Jährige kommt aus der Schweiz, lebt in Berlin und spielte im Kinofilm "Lux – Krieger des Lichts" neben Franz Rogowski.
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fluter.de: Frau Haug, Sie sind in diesem Jahr eines der Gesichter der Berlinale Talents, was genau bedeutet das?
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Das bedeutet, dass ich eine von 250 internationalen, jungen Teilnehmern bin und ein sehr einzigartiges Programm während der Berlinale besuchen darf. Es gibt individuelle Veranstaltungen für alle Berufszweige der Branche, zum Beispiel für Drehbuchautoren, Regisseure, Cutter und SchauspielerInnen wie mich. Ich habe in den letzten zwei Tagen an einem Schauspielcoaching teilgenommen. Außerdem hat man natürlich Gelegenheit, viele andere Künstler kennenzulernen und sich auszutauschen.
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Auf dieser Berlinale wurde viel über #Metoo gesprochen. Inwiefern hat das Thema auch bei den Berlinale Talents eine Rolle gespielt?
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In ziemlich vielen Unterhaltungen am Rande der Veranstaltungen ging es auch um #Metoo und die vielen Themen die zu der Bewegung gehören. So viele Diskussionen wie in diesem Jahr habe ich auf keiner Berlinale zu diesem Thema erlebt. Das freut mich. Die Menschen machen sich Gedanken.
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Worüber genau?
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Ich habe auch mit Männern über #Metoo gesprochen, bei denen eine Art Verunsicherung herrscht. Ich habe mich zum Beispiel mit einem Regisseur unterhalten, der gerade ein Drehbuch schreibt, in dem es Passagen gibt, die er im Zuge der Debatte nun ganz anders sieht. Ich finde diese Verunsicherung aber ganz wichtig und empfinde sie nicht als negativ. Nur so kann man Dinge hinterfragen.
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Im Tipi am Kanzleramt wurde am Montag über sexualisierte Gewalt in der Filmbranche gesprochen und auch darüber, was man am Set verbessern könnte. Zum Beispiel durch Anlaufstellen oder einen Verhaltenskodex. Was sagen Sie dazu?
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Ich finde die Idee einer Anlaufstelle, vielleicht sogar einer deutschlandweiten Anlaufstelle, gut. Es muss einen Ort geben, an den man sich wenden kann. Übrigens sollte es die Stelle auch für andere Branchen geben. Gleichzeitig finde ich, dass man sein Bewusstsein am Set schärfen sollte. Sowohl die Regisseure als auch die Kollegen. Ein füreinander Einstehen ist total wichtig. Und dass man sich traut, den Mund aufzumachen, wenn es sein muss.
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Was sollte sich noch ändern?
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Ich bin für eine Quote. Und ich glaube, wenn mehr Frauen als Regisseurinnen, Drehbuchautorinnen, Kamerafrauen, Cutterinnen und so weiter an Filmsets arbeiten, weicht das alte Machtstrukturen auf.
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Was für Frauencharaktere spielen Sie normalerweise?
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Meine erste Hauptrolle war in Isabell Šubas Film "Männer zeigen Filme & Frauen ihre Brüste", einer improvisierten Fake-Doku über das Filmfest in Cannes. Dort habe ich eine unabhängige Frauenfigur gespielt. Die hat mich in eine tolle Richtung gelenkt, ich hab seither viele sehr selbstständige und freiheitsliebende Frauen gespielt.
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Diese Rollen sind nicht selbstverständlich. Meistens haben Frauen weniger Sprechanteil als Männer im Film und verschwinden ab 35 Jahren langsam von der Leinwand. Warum?
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Ich glaube, dass über Filmstoffe oftmals – von Produzentenseite, Sendern oder auch Autoren – so gedacht wird: Eine Geschichte über eine Frau ist eine Geschichte über eine Frau. Und eine Geschichte über einen Mann ist eine allgemeingültige Geschichte. Ein Film mit einer Frau in einer Hauptrolle ist schnell ein sogenannter Frauenfilm. Und bei einem Film mit einem Mann in einer Hauptrolle müssen schon 15 weitere Männer mitspielen, dann erst ist es ein Männerfilm. Es gibt aber langsam andere Rollen für Frauen. Und ihre Rollen werden auch anders wahrgenommen. Auch weil ProQuote Film mit dem Vorlegen von Zahlen immer wieder ein Bewusstsein dafür schafft.
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Warum sind diese Frauenfiguren wichtig?
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Weil es Heldinnen braucht, an denen sich junge Frauen orientieren können. Wenn ich eine Tochter hätte, würde ich ihr heute immer noch Pippi Langstrumpf vorlesen. Das ist gut, aber irgendwie auch schade.
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Christine Stöckel
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Weltpremieren von Fernsehserien sind längst fester Teil des Berlinale-Kanons. Dieses Jahr mit dabei: "Bad Banks" und "Heimebane", zwei Serien, in denen sich weibliche Hauptfiguren in von Männern dominierten Teilen der Gesellschaft behaupten müssen. In Heimebane ist das Fußball. Helena Mikkelsen (Ane Dahl Torp) ist die erste Frau auf einem Trainerposten in der ersten norwegischen Männerfußballliga. Ihre Aufgabe: einem hoffnungslos unterlegenen Aufsteiger den Klasserhalt sichern. Doch schon in der ersten Teamsitzung wird klar, dass sie sich erstmal gegen den Platzhirsch und Mannschaftskapitän behaupten muss.
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"Bad Banks" hat eine ungleich schrillere Tonlage. Die Serie beginnt mit Ausschreitungen im Frankfurter Finanzviertel, die Pleite einer deutschen Großbank versetzt Kleinsparer in Panik. Danach tauchen wir ein in die zynische Glasbauten-und-Overperformance-Welt des Investmentbankings. Im Mittelpunkt und immer unterwegs zwischen Brüssel, Frankfurt, Luxemburg: die hochbegabte Jana Liekam (Paula Beer), die lernen muss, dass Topkenntnisse in Finanzmathematik und Steuerrecht allein nicht für die Karriere reichen.
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Denn eins zeigen beide Serien: Frauen müssen schon 120 Prozent an Leistung und Kompetenz bringen, damit sie so ernst genommen zu werden wie ein Mann in der gleichen Position – und selbst das reicht oft nicht. Unfair, klar. Und auch ganz konkreter Alltagssexismus wird thematisiert, von harmlos gemeinten dummen Sprüchen bis zu brutalen Beschimpfungen am Telefon.
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Während es bei "Heimebane" noch nicht sicher ist, ob, wann und wo die Serie in Deutschland zu sehen sein wird, steht der Ausstrahlungstermin von "Bad Banks" unmittelbar bevor: kommende Woche auf Arte, ab dem 2. März im ZDF. In der Arte-Mediathek ist sie schon jetzt abrufbar.
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Michael Brake
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Die Berlinale wäre nicht die Berlinale ohne… die Tasche
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Beruf:Sie ist Werbegeschenk und Packesel für die unzähligen akkreditierten Festivalgäste. Für alle anderen gibt es sie auch im Berlinale-Shop zu kaufen.
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Besondere Merkmale:Ihre Wandlungsfähigkeit. Jedes Jahr sieht die Tasche anders aus und spiegelt – wenngleich mit einer gewissen Verzögerung – die Trends urbaner Tragemode wieder. In den Nullerjahren trat sie lange in Form der seitlich getragenen Umhängetasche auf, seitdem gab es sie es sie mal Jutebeutel, mal in Kartoffelsackstoff oder Filz gehalten, mal mit Anschnallgurt-Trageriemen. Seit 2016 hat die Festivaltasche zur Rucksackform gefunden, wobei sie sich dieses Jahr mit ihrem Toploader-Rollverschluss deutlich an Fahrradkuriertaschen orientiert.Warum braucht die Berlinale sie?Während des Festivals trennt sie rund um den Potsdamer Platz das Festivalvolk von Touristenhorden und schafft so ein Gemeinschaftsgefühl. So richtig zum Distinktionsobjekt wird sie erst im Anschluss: "Schaut mal, ich war auf der Berlinale. Und zwar schon 2009!", das wollen ihre Träger mit ihr sagen.Und was sagt sie selbst?"Ich werde herumgetragen und komme in jede Weltpremiere. Besser geht es doch nicht."
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Mbr
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Was bisher geschah? Die ersten acht Tage unseres Berlinale Blogs findest Duhier.
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fluter/Berlinale-Doku-victory-day-losnitza-sowjetisches-ehrenmal.txt
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Was zeigt uns das?
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"Geschichte hat keine Eigner", so hat ein RBB-Journalist 2015 das Treiben am Sowjetischen Ehrenmal kommentiert. Und tatsächlich finden hier ganz verschiedene Feierlichkeiten statt. Für manche ist es eine Erinnerung an die Toten, für andere Freude über den Sieg über den Faschismus, wieder andere feiern ein russisches Volksfest oder machen einen Familienausflug, und für einige ist es eben eine Party für einen Staat, den es nicht mehr gibt: die Sowjetunion, an die mit vielen Hammer-und-Sichel-Fahnen erinnert wird.
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Wie wird's erzählt?
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Sergei Loznitsa, der schon Dokumentarfilme über die Besucher deutscher KZ-Gedenkstätten und die ukrainischen Maidanproteste gedreht hat, übt sich in maximaler Zurückhaltung. Stumm beobachtet die Kamera das Geschehen und nimmt Eindrücke auf, die in einer warmen, an alte Analogfotos erinnernden Farbstimmung gehalten sind. Dazu gibt es ausschließlich Originalton: Gesprächsfetzen auf Deutsch und Russisch, Reden, die Verlesung der Namen von Verstorbenen und immer wieder Lieder, von kleinen Bands gespielt oder spontan gesungen. Was Sergei Loznitsa dabei an Details und Beobachtungen eingesammelt hat, ist enorm. Nur die Dramaturgie und der Rhythmus des Gezeigten wirken mitunter etwas unentschlossen.
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Beste Nebenrolle
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Katjuscha – die junge Frau, die zwischen blühenden Apfelbäumen sehnsüchtig auf die Briefe ihres Liebsten von der Front wartet. Der sowjetische Schlager "Katjuscha", geschrieben 1938, wurde im Zweiten Weltkrieg als Soldaten- und Hoffnungslied enorm populär und ist es bis heute. Im Film wird er allein dreimal angestimmt.
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Taschentuchmoment
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Immer wenn gesungen wird. Es sind fröhliche und traurige russische Lieder, von der Heimat und der Natur, vom Fluss Don, vom Krieg und von Liebenden. In den Feierlichkeiten am Ehrenmal mischt sich grimmig-traurige Ernsthaftigkeit mit ausgelassener Freude, was aber ganz natürlich wirkt.
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Gut zu wissen
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Viele der Anwesenden tragen schwarz-orange gestreifte Schleifen. Es ist das Sankt-Georgs-Band, das schon zur Zarenzeit mutigen Soldaten verliehen wurde. Ein Symbol bei den Gedenkfeiern wurde es allerdings erst 2005 auf Initiative der Putin-Regierung, die den 9. Mai in den vergangenen rund zehn Jahren mit nationalistischer Bedeutung aufgeladen hat. Das Band gilt mittlerweile als ein politisch bedeutsames russisches Staatssymbol, das aber in vielen postsowjetischen Staaten nur ungern gesehen wird. So wurde es unter anderem von den prorussischen Kräften in der Ostukraine getragen – und ist in der Ukraine seit Mai 2017 sogar verboten.
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Auch gut zu wissen
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War die deutsche Kapitulation im Zweiten Weltkrieg nicht eigentlich am 8. Mai? Richtig – doch so spät am Abend, dass nach Moskauer Zeit schon der nächste Tag begonnen hatte. Deswegen feiert man in Russland am 9. und nicht am 8. Mai.
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Ideal für …
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… alle die Russland mögen, allein wegen der Lieder. Aber auch für alle, die einen Sinn für den Umgang mit Geschichte, für etwas skurrile Veranstaltungen oder für präzise Beobachtungen haben.
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"Den' Pobedy" ("Victory Day"), Deutschland 2018; Regie, Drehbuch: Sergei Loznitsa; 94 Minuten
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fluter/Berlinale-Film-vice-dick-cheney.txt
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Was zeigt uns das?
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Dass Dick Cheney vermeintlich der mächtigere Mann in der Bush-Administration war und die treibende Kraft für den Irakkrieg und den war on terror. Regisseur und Drehbuchautor Adam McKay will mit seinem Film hinter die Kulissen der Macht blicken. Ihn interessiert, wie viel Einfluss einzelne Personen auf institutionelle Entscheidungsprozesse nehmen können. Im zurückhaltenden Bürokraten Cheney sieht McKay eine prägende Persönlichkeit für die neokonservativen Trendwenden in der US-Politik der vergangenen Dekaden. Dazu gehören die Deregulierung der Wirtschaft, der steigende Einfluss von Lobbyisten sowie die militärischen Interventionen der USA nach dem 11. September 2001. Entwicklungen, die bis heute nachwirken.
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Wie wird's erzählt?
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Als beißende Satire mit komplexer Erzählstruktur. "Vice" springt hin und her zwischen den Zeitebenen und unterbricht regelmäßig die Handlung, um schwierige Zusammenhänge in einer Art Erklärfilm zu erläutern: etwa wenn der Kellner in einem Restaurant das "Menü Guantánamo" empfiehlt, weil man dort ohne Rechtsverletzung Gefangene foltern kann. Adam McKay hat dieses Stilmittel schon in seinem letzten Film "The Big Short" etabliert, um einem Massenpublikum die sperrigen Abläufe des Finanzmarkts näherzubringen. In "Vice" bricht er die "vierte Wand" aber auch, um darauf hinzuweisen, dass in einem Film über reale Politiker vieles dann eben doch erfunden ist. In diesen Szenen, zum Beispiel wenn die Cheneys im Ehebett plötzlich geschwollenes Shakespeare-Englisch reden, ist der Film am witzigsten.
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Good Job!
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Christian Bale ist großartig in der Hauptrolle und beweist erneut, dass er der wandlungsfähigste Schauspieler Hollywoods ist. Der 44-Jährige spielt Cheney im Alter von Mitte 20 bis Ende 60 –mit Perücken, jeder Menge Make-up und knapp 20 Kilo mehr auf den Rippen. Hörbar schnauft er jedes Mal durch die Nase, bevor er maulfaule one-liner von sich gibt. Bale ringt auch einer Figur, die als eindimensionaler bad guy angelegt ist, differenzierte Emotionen ab. Am Ende wirkt Cheney trotz seiner Skrupellosigkeit eigentlich ziemlich sympathisch.
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Hat mich berührt
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Als der konservative Hardliner von seiner Tochter Mary erfährt, dass sie lesbisch ist, reagiert er verständnisvoll. "Es macht keinen Unterschied, wir lieben dich so oder so", sagt er nur. Politisch bringt das ihn und seine andere Tochter Liz, die selbst als republikanische Abgeordnete kandidiert, in den Konflikt, mit der Partei trotzdem gegen die Rechte von Homosexuellen einzutreten.
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Schwächste Szene
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Cheney beginnt seine Karriere als Assistent von Donald Rumsfeld, seinem politischen Vorbild. Einmal fängt er seinen Boss vor dessen Büro ab. "Eine Frage noch: Woran glauben wir eigentlich?" Rumsfeld bricht in Gelächter aus, schüttelt den Kopf, geht wortlos in sein Büro und lacht dort hinter verschlossener Tür weiter. Die größte Schwäche des Films: dass er Machtpolitiker wie Cheney und Rumsfeld für unideologische Opportunisten hält. Dabei ist deren Politik doch stark verankert im neokonservativen Wertekosmos.
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FYI
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Aktuelle Bezüge zur Trump-Regierung hat "Vice" in der Frage, wie weit die Macht des US-amerikanischen Präsidenten tatsächlich geht. Cheney handelt im Film auf der Grundlage der sogenannten Unitary Executive Theory. Nach diesem Verständnis der Verfassung wird die Macht des Präsidenten als ausführende Gewalt in keiner Weise eingeschränkt, zum Beispiel bei Personalentscheidungen.
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Ideal für …
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… desillusionierte Linksliberale, die der Film augenzwinkernd als Kernzielgruppe identifiziert, und selbstironische Konservative, die den Irakkrieg trotz allem immer noch für gerechtfertigt halten. Regisseur Adam McKay glaubt, dass auch Dick Cheney gegen seine Darstellung nichts einzuwenden hätte.
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fluter/Berufe-in-der-Politik-Referent-im-Bundestag.txt
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Mein Werdegang zur Referentin verlief "klassisch". Ich habe Politikwissenschaften studiert und im Rahmen meines Studiums ein dreimonatiges Praktikum bei einer Abgeordneten der Grünen-Fraktion gemacht. So bekam ich nicht nur eine erste Orientierung, sondern auch Kontakte zu Kolleginnen und Kollegen, die mir wenig später davon erzählten, dass eine Stelle für eine studentische Mitarbeiterin ausgeschrieben wurde. Ich habe mich beworben und zwei Jahre als studentische Mitarbeiterin im Büro der damaligen Fraktionsvorsitzenden der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/ Die Grünen, Renate Künast, gearbeitet. Der Anschluss hat danach wieder sehr gut gepasst. Als meine heutige Referentenstelle intern ausgeschrieben wurde, hatte ich gerade mein Studium beendet. Ich habe mich beworben und bin Referentin geworden.
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In mein Thema bin ich im Laufe der Zeit hineingewachsen. Im Studium spielten Demografiefragen keine große Rolle. Während meiner Tätigkeit als studentische Mitarbeiterin hatte ich jedoch immer wieder mit Themen zu tun, die im Zusammenhang mit dem demografischen Wandel stehen.
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Inzwischen bin ich also mittendrin im politischen Geschehen. Nach politischer Macht fühlt sich das trotzdem nicht jeden Tag an. Ich arbeite für eine Oppositionsfraktion, der tatsächliche Einfluss, Dinge umzusetzen, ist dadurch ziemlich begrenzt. Manchmal finde ich es schon schade, dass die erarbeiteten Anträge in den Ausschüssen oder im Parlament in aller Regel abgelehnt werden. Das kann frustrieren, aber wer weiß, wie es im Herbst 2017 aussieht.
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Parteimitglied bin ich nicht. Allerdings teile ich die Werte der Partei. Ich denke, dass man in diesem Umfeld und in der Funktion nur arbeiten kann, wenn man mit der Politik und mit den Grundwerten der Partei übereinstimmt. Ob ich mal in die Partei eintrete, weiß ich nicht. Ich hätte nichts dagegen, aber so fühle ich mich neutraler in meiner Beraterfunktion. So passiert es auch nicht, dass sich Funktionen vermischen. Wenn Kollegen innerhalb der Partei eine andere Funktion haben als in der Arbeitswelt, kommt das schon vor.
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Referent werden –wie geht das?
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Den ersten Kontakt und die erste Orientierung bekommt man in der Regel in einem Praktikum während des Studiums der Politikwissenschaften. Manchmal ergeben sich daraus weitere Kontakte und Vorteile, wenn etwa studentische Mitarbeiterstellen besetzt werden. Referentenstellen gibt es nicht nur beim Bundestag, sondern auch in den Landtagen, bei der EU, in Ministerien oder bei politischen Stiftungen.
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Und was verdiene ich da?
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Bezahlt werden Referenten nach dem Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst in der Entgeltgruppe 13. Im ersten Berufsjahr entspricht das3.573 Euro monatlich.
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Obwohl ich wusste, worauf ich mich einlasse, war ich am Anfang überrascht, dass ich nicht nur Aufträge bekomme, sondern selbst mit Ideen zu meinen Vorgesetzten gehen kann. Ich arbeite nicht nur zu, sondern bin gehalten, aus eigener Initiative zu beraten. Mir macht das großen Spaß, und es motiviert mich, mit Kreativität und Eigeninitiative an die Arbeit zu gehen. Was mir an meinem Job auch gefällt, ist, dass er sehr abwechslungsreich ist. Empfehlen kann ich meinen Job auf jeden Fall. Ich finde mein Aufgabenfeld auch nach vier Jahren noch total spannend und lerne ständig Neues dazu.
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Wenn jemand sich vorstellen kann, in diesem Beruf zu arbeiten, würde ich dringend dazu raten, Praktika in dem Bereich zu machen und selbst Erfahrungen im politischen Raum zu sammeln. Als studentische Mitarbeiterin habe ich schon vieles mitbekommen, was ich im Studium niemals gelernt hätte. Dabei geht es um ganz unterschiedliche Dinge, zum Beispiel darum, wie das politische Berlin tickt, wie Fraktionen funktionieren und dass jede Partei ein ganz eigenes System mit einer speziellen Funktionsweise ist.
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Franziska Gehrke, Referentin für Demografie und Jugendpolitik Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag
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fluter/Bettina-wilpert-nichts-was-uns-passiert-vergewaltigung-oder-nicht.txt
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Bettina Wilpert: "Nichts, was uns passiert", Verbrecher Verlag, Berlin 2018, 168 Seiten
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Nein heißt Nein, auch hierzu gibt es einen Hashtag. Das Sexualstrafrecht in Deutschland wurde Ende 2016 überarbeitet, sodass nun der Grundsatz nun gilt, dass bestraft wird, "wer gegen den erkennbaren Willen einer anderen Person sexuelle Handlungen an dieser Person vornimmt". Hat Anna Nein gesagt, gelallt, und, wenn ja, hat Jonas es nicht gehört, oder wollte er es nicht hören? Hat er blaue Flecke auf ihrem Handgelenk hinterlassen, die, als es zwei Monate später zur Anzeige kommt, längst verheilt sind? Lügt Anna, um sich für Jonas' Ablehnung zu rächen? Oder ist dieser eben doch nicht der brave Frauenversteher, für den ihn alle halten?
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Aus diesen Fragen werden im überschaubaren Leipzig, wo auch die 1989 geborene Autorin lebt, erst Mutmaßungen und schließlich Verleumdungen, weil so eine "Sache" ja niemals nur die Betroffenen betrifft. Dem Protagonisten wiederfährt das, was vor einigen Monaten von einem deutschen Feuilletonisten als "Hexenjagd" bezeichnet wurde: Er verliert seine Doktorandenstelle, bekommt Hausverbot im besetzten Haus, Freunde wenden sich ab, seine Mutter wird auf offener Straße angespuckt. Anna hingegen verspielt Teile ihrer Glaubwürdigkeit, indem sie ihr traumatisches Erlebnis mithilfe Dutzender One-Night-Stands verarbeitet. Denn, so viel steht fest: Traumatisiert ist Anna, die Frage ist, wie weit sich dieses Trauma in ihrem eigenen Kopf abspielt. Erinnerung funktioniert in Schemen, nicht in Schubladen, heißt es an einer Stelle.
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Wilpert wählt eine nüchterne Sprache und die indirekte Rede. Es ist die Perspektive eines oder einer unbeteiligten Dritten, der oder die "Interviews" mit den Betroffenen und den Menschen aus deren Umfeld führt, wobei unbeteiligt natürlich nicht stimmt. Plötzlich werden andere Vergewaltigungsopfer durch Jonas' bloße Anwesenheit getriggert, erinnert sich seine Ex-Freundin an fliegende Geschirrtücher im Pärchenurlaub und seine Studentinnen an sexistische Sprüche. Und hat Anna etwa Daddy Issues?
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Die Stärke dieses literarischen Debüts ist, dass es keine klaren Verhältnisse schafft. Somit berührt es eine andere große Debatte unserer von twitternden Präsidenten bestimmten Gegenwart. Annas Vergewaltigung als Kategorie Fake News? Kurz bevor eine "Sache" das Leben zweier Menschen für immer verändert, stimmen die Geburtstagsgäste ein Lied von Bertolt Brecht an: "Denn für dieses Leben/ist der Mensch nicht schlau genug/niemals merkt er eben/allen Lug und Trug." Und damit ist eigentlich alles gesagt.
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Du willst es genauer wissen? In Deutschland gilt: Wer Sex nicht will, muss das deutlich sagen. Nur, wo beginnt Sexual Consent und wo ist Schluss?Fünf Leute berichten vor der Kamera
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Titelbild: linonono
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fluter/Bollewick-in-Mecklenburg-Vorpommern.txt
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Heute kann man in der Scheune übernachten, nicht im Stroh, sondern in bequemen Betten. In einem richtigen Hotel. Es gibt auf zwei Etagen Lebensmittelstände mit Wurst, Honig oder Sanddornsaft aus Mecklenburg, einen Bäcker und sogar einen Friseur. Im Grunde genommen müsste man nie mehr raus aus diesem dörflichen Shoppingcenter, es ist alles da.
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Die Scheune ist ein gutes Beispiel dafür, wie sich Orte verändern können. Und dafür, wie ihnen Menschen eine neue Bedeutung geben, neues Leben einhauchen. Früher, zu DDR-Zeiten, war die Scheune ein Ort, um den die Menschen einen großen Bogen machten. "Das stinkende Dorf" wurde Bollewick genannt. 650 Kühe lebten zusammengepfercht in der Scheune, nachdem die DDR-Führung viele kleine Bauernhöfe in einer riesigen Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG) kollektiviert hatte. Die sozialistische Massentierhaltung vergiftete die Böden und die Gewässer im Umland, für den Protest gegen diese Umweltverschmutzung geriet man schnell ins Visier der Stasi. So erging es auch Bertold Meyer, der vor 62 Jahren in Bollewick geboren wurde und erlebte, wie seine Eltern ihre Selbstständigkeit als Bauern verloren – und wie das Land vergiftet wurde. Erst mit der Wende kam für ihn die Gelegenheit, in seinem Heimatort die Dinge zum Besseren zu verändern. "Wolfserwartungsland" oder "Altersheim der Nation", so habe man Anfang der 1990er-Jahre über viele Regionen in Mecklenburg-Vorpommern gelästert, weil die Menschen in Scharen weggezogen seien, nachdem die meisten DDR-Betriebe dichtmachten. "Auch heute noch reden viele von Dunkel-Deutschland, wenn sie Orte wie diesen meinen", sagt Meyer, der nach der Wende ehrenamtlicher Bürgermeister wurde – wohl weniger, weil er es wollte, sondern weil sonst niemand Lust auf den Job hatte. Und auch, weil er schon ein paar Ideen hatte, wie der aussterbende Ort seinem Schicksal entgehen könnte.
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Dabei war die Scheune der Beginn vom Neuanfang. Meyer verhinderte, dass sie abgerissen wurde. Die Trümmer hätten im ohnehin kontaminierten Dorfteich versenkt werden sollen. Stattdessen ging die Scheune in den Besitz der Gemeinde über. Zunächst hatte er gehofft, dass irgendein Aldi oder Lidl einzieht, aber die winkten alle ab. Zum Glück. Schließlich bekam Meyer Zuschüsse von EU, Bund und Land für seinen Plan, die größte Feldsteinscheune Deutschlands zu renovieren. Dass sich viele Touristen locken ließen, lag auch an der Nähe zur Mecklenburgischen Seenplatte.
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Mittlerweile kommen im Jahr mehr als 100.000 Besucher, 70 Menschen haben in der Scheune Arbeit. Manche von ihnen pflegen noch alte Handwerksberufe wie Kürschner oder Holzdrechsler und verkaufen die Produkte direkt aus der Werkstatt.
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Die Scheune war der Beweis, dass sich in Bollewick was machen ließ. Meyers Tatendrang war belohnt und noch mal gesteigert worden. Das nächste große Ding war dann die Sache mit dem Mist.
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Die Inspiration kam ihm, als Mitte der Nullerjahre mal wieder ein durchreisender Experte in der Scheune einen Vortrag hielt, diesmal über regenerative Energien. Im kleinen Bürgermeisterbüro in der Scheune fragte der Experte an-schließend, warum man denn in Bollewick von der krumm gewachsenen Rübe über das gemähte Gras bis hin zu den Holzabschnitten vom Wegesrand alles wegschmeiße? Ob sie denn noch nie etwas davon gehört hätten, dass all das in kleinen Kraftwerken schön vorsich hingären könne, um die umliegenden Haushalte mit Strom und Wärme zu versorgen. Worte, die in Bollewick wie Samen auf fruchtbaren Boden fielen.
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Heute ist Bollewick ein sogenanntes Bioenergiedorf. Das heißt, es produziert den Strom, den die Menschen benötigen, in Biogasanlagen. "Bollewick ist nicht unbedingt schön", sagt Meyer. "Aber wir haben erkannt, welches Potenzial unser Dorf hat." Mit einem Lächeln zeigt er auf den Gehweg. Darunter sind die Nahwärmerohre verlegt, die das Dorf mit Warmwasser versorgen. Wie eine Fußbodenheizung sei das im Winter. Die Leitung verläuft entlang der Durchgangsstraße. Im Minutentakt fahren Traktoren und Güllewagen vorbei. An einem lindgrünen Holzhaus biegen sie in einen Feldweg ab. Im hinteren Teil des kleinen Hauses sind die Wärmepumpen fürs Dorf untergebracht; im vorderen bekommt man rund um die Uhr Grillfleisch, Käse aus der Region oder frische Milch aus dem Automaten.
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Eine der zwei Biogasanlagen steht auf dem Land von Hendrikus van der Ham, der vor 14 Jahren aus den Niederlanden hierherzog, um den Hof eines verstorbenen Bauern zu übernehmen. Damals war er 24. In seiner Heimat könne man sich kaum noch etwas Eigenes aufbauen, so teuer sei Ackerland dort, sagt van der Ham. Der Strom, den er zusam- men mit seinem Nachbarn aus Gülle und Pflanzen produziert, reicht für etwa 3.000 Haushalte, viel mehr, als es in Bollewick gibt."Ich mach aus Scheiße Gold, könnte man sagen", lacht van der Ham. Ob die Dorfbewohner ihn als Eindringling sehen? "Nein.Die sind froh, weil es billiger ist als Heizöl und das Geld nicht bei Putin landet, sondern in ihrer Region bleibt. Und wir schaffen Arbeitsplätze. Über fünf Millionen Euro hat die Umrüstung in ein Bioenergiedorf gekostet, einen Großteil davon haben die Landwirte übernommen.
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Es gibt nun sogar LED- Straßenlampen. Und es gab den Traum von einem Elektrobus, der von einem Windrad gespeist wird, aber ein seltener Vogel brütet in der Nähe und hat den Bau verhindert. Dennoch gibt es seit ein paar Wochen wieder einen öffentlichen Nahverkehr in Bollewick. Die drei Kleinbusse fahren die Dorfbewohner auf Abruf selbst.
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Bollewicks Einwohnerzahl ist seit der Wende gestiegen. Viele finden im Dorf Arbeit, andere pendeln in größere Orte, manche kommen auch nur am Wochenende. Wie viele Menschen hier ihre Zukunft sehen, zeigen auch die drei Kindertagesstätten. Das Dorf gehört zu den jüngsten Gemeinden der Region. Und das, obwohl Bollewick auch ältere Menschen anlockte.
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Menschen, die gemeinsam alt werden wollen, sollten sich hier ansiedeln. Diese Idee scheiterte jedoch: Zwölf bunt gestrichene Holzhäuser stehen hufeisenförmig in der neu angelegten Straße, "Unterm Regenbogen" heißt sie. Viele zogen aus Westdeutschland hierher. Jetzt seien sie untereinander so zerstritten, dass einige ihr Haus wieder verkaufen wollen. Andere haben es nie bezogen. "Ein paar Rückschläge gehören dazu", kommentiert Bertold Meyer.
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Ein Dorf in Deutschlands Osten, das Menschen anzieht, wo doch sonst nur von Orten die Rede ist, die aussterben. Ein Dorf auf halber Strecke zwischen Berlin und Hamburg als Labor für Innovationen: Mittlerweile interessiert man sich auch andernorts dafür, wie Bollewick sein Comeback geschafft hat. Aus vielen Ländern kommen Unternehmer und Politiker zu Besuch. Sie wollen ihre Dörfer in Russland, Brasilien oder Vietnam lebenswerter machen. Die Besucher bestaunen dann die Scheune, sie kaufen handgemachte Kleidung oder Seidenblumen, essen Würste aus Mecklenburg und lassen sich über die Energiegewinnung aufklären. Und sehr schnell wird ihnen klar, dass das wichtigste Kraftwerk nicht auf dem Feld herumsteht. Es hat seinen Sitz in einem kleinen Büro in der Scheune.
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Stephen Bannon, den Andrew Breitbart einmal bewundernd als "Leni Riefenstahl der Tea-Party-Bewegung" bezeichnet hatte, wurde im August von Donald Trump als Chef in sein Wahlkampfteam geholt, in dem es gerade drunter und drüber ging. Eine selbst für US-Verhältnisse ungewöhnliche Verquickung von Medien und Politik, auch wenn Bannon seine Tätigkeit bei Breitbart offiziell ruhen ließ.
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Nach dem Sieg bei den Präsidentschaftswahlen soll Bannon Trumps Chefstratege im Weißen Haus werden. Dagegen gibt esmehrere Internet-Petitionenmit überschaubarem Zulauf, aber der frühere Ku-Klux-Klan-Anführer David Duke und die American Nazi Party haben diesen Vorschlag ausdrücklich begrüßt. Breitbart hat unterdessen angekündigt, den medialen Output erhöhen und Dependancen in Frankreich und Deutschland errichten zu wollen – offenbar mit dem Ziel, rechte Politiker bei den dort anstehenden Wahlen zu unterstützen. Marion Maréchal-Le Pen, Nichte der Front-National-Chefin Marine Le Pen, könnte sich eine Zusammenarbeit mit Breitbart jedenfalls schon mal gut vorstellen, wie sie zu Protokoll gab.
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Dierk Borstel, Professor für Praxisorientierte Politikwissenschaft an der FH Dortmund, sieht Breitbart als "politische Kampagnenplattform mit journalistisch anmutender Aufmachung", deren Chancen auf dem deutschen Markt er als gut einschätzt: Etwa zehn Prozent der Bevölkerung verfügten über Einstellungen, die dem Rechtspopulismus zugrunde liegen. Eine Plattform wie Breitbart könnte seines Erachtens vor allem jene ansprechen, die sich vom bestehenden demokratischen System nicht mehr vertreten fühlen, seriösen Journalismus als "Lügenpresse" beschimpfen und sich in rassistischen Vorstellungen bestätigt fühlen wollen, ohne dabei als Rechtsextremisten zu gelten.
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In den USA hat Breitbart mehr Besucher als die Webseiten von "New York Post", ABC News oder "Time", im Oktober waren es mehr als elf Millionen einzelne Besucher. Angebote wie die Publikationen des Kopp-Verlags, das rechtspopulistische Magazin "Compact" von Jürgen Elsässer oder die Website PI News, die hierzulande durchaus schon ein Publikum erreichen und mit ihren (teilweise abgesagten) Veranstaltungen mediale Aufmerksamkeit erzielen, wirken dagegen eher wie Nischenprodukte.
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Nun könnte man einwenden, dass sich die Medienlandschaften in Deutschland und den USA sehr stark voneinander unterscheiden und es hier auch nie einen Sender wie Fox News gegeben hat (der konservative Moderator Glenn Beck, der früher bei Fox News war, hat Breitbart News und Bannon jüngst dafür kritisiert, der "Alt-Right"-Bewegung eine Stimme zu geben). Auch unterscheidet sich die politische Landschaft in den USA sehr von der in Deutschland. Aber der Zuwachs, den rechtspopulistische Parteien in ganz Europa erleben, ist nicht zu leugnen.
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So sieht Dierk Borstel bei allen Unterschieden zwischen Trump- und AfD-Wählern dann auch einige Gemeinsamkeiten: "die Entfremdung vom bestehenden demokratischen System und seinen tragenden Säulen und Repräsentanten, der Glaube an eine lügende Presse, das Gefühl, in sozialer und kultureller Gefahr zu sein, und dazu noch die Lust, jeglichen politisch-menschlichen Anstand gegenüber Minderheiten, aber zum Teil auch gegenüber emanzipierten Frauen endlich über Bord werfen zu dürfen". Dies sei eine internationale Bewegung, die sich gegen die Idee der offenen und liberalen Gesellschaft wende.
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Borstel beobachtet derzeit eine "doppelte Radikalisierung" – am äußersten rechten Rand zur Gewalt und in Teilen der Mitte der Gesellschaft zum Rechtspopulismus, wie die Erfolge der AfD, aber auch Straßenbewegungen wie Pegida zeigten. Wie erfolgreich Breitbart in diesem politischen Klima sein könne, hänge davon ab, wie das konkrete Angebot aussehen wird. In den anhaltenden Diskussionen über Flüchtlinge und den Islam sieht er aber mindestens zwei Themen mit Mobilisierungspotenzial.
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Der Aufstieg der AfD ist den Redakteuren bei Breitbart nicht entgangen, bei Twitter bekundeten AfD-Vertreter schon einmal Sympathie für die Expansionspläne der Plattform nach Deutschland. Laut Breitbart-Chefredakteur Alexander Marlow laufen schon Gespräche mit Journalisten in Deutschland, die die deutsche Plattform aufbauen sollen. Vielleicht findet er welche bei der rechten Wochenzeitung "Junge Freiheit", über die AfD-Vize Alexander Gauland einmal gesagt hat, wer AfD-Wähler verstehen wolle, müsse die "Junge Freiheit" lesen. Bei Facebook gibt es andererseits bereits einenAufruf an Berliner Immobilienbesitzer, ihre Räumlichkeiten nicht an Breitbart zu vermieten.
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Canaan Khoury
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Nadim Khoury
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In der Euphorie nach dem Priedensprozess von Oslo, als Israel und die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) einander erstmals offiziell anerkannten und den Palästinensern für eine Interimsphase eine autonome Verwaltung des Gazastreifens und des Westjordanlandes zugesprochen wurde, hat Canaans Vater, Nadim Khoury, 1994 das Familienunternehmen gegründet. Der langjährige PLO-Chef und Palästinenserführer Jassir Arafat höchstpersönlich hat ihm damals seinen Segen gegeben: "Mit Gottes Willen, brau dein Bier!", soll er gesagt haben. Ein Bild auf Nadims Schreibtisch verewigt den Moment des Handschlags. Der Name Khoury bedeutet auf Arabisch Priester, und in der Tat gibt es davon in der Familie 13 Stück. "Der Vorname meines Vaters, Nadim, bedeutet jedoch Saufkumpan. Vielleicht hat das unsere Berufung verändert", fügt Canaan lachend hinzu.
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Da weiß man, was man zu tun hat: Das Dorf Taybeh, die letzte Hochburg des Christentums im Westjordanland, ist umgeben von Weinbergen
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Das Foto erinnert dran: Palästinenserführer Jassir Arafat höchstpersönlich hat Nadim Khoury damals seinen Segen gegeben: "Mit Gottes Willen, brau dein Bier!"
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Die Zutaten für das Getränk bezieht die Familie aus der ganzen Welt: Malz kommt aus Belgien, Hopfen aus Deutschland und Hefe aus Großbritannien. "Wir brauen nach dem deutschen Reinheitsgebot", sagt Nadim Khoury stolz. In Anzug und Krawatte inspiziert er das heutige Bräu. Vor zwei Wochen war die Familie zu Besuch in Nürnberg, um sich bei der Fachmesse BrauBeviale mit den neuesten Trends der Bierkultur vertraut zu machen. Deutschland sei das erste Land gewesen, das Taybeh-Bier vertrieben habe. Mittlerweile findet man es sogar in Bars in Israel, wo es eher schwierig ist, Produkte aus dem Westjordanland zu vertreiben. Nadim Khoury deutet auf ein riesiges Poster an der Hausfassade. Eine Werbung für das Oktoberfest, das sie vor einem Monat in Taybeh veranstaltet haben. Es ist mittlerweile eines der größten Events in Palästina – dieses Jahr sind 16.000 Menschen gekommen. Seit 2005 veranstaltet die Brauerei das Fest. Lediglich während des Gazakriegs 2014 ist es aus Respekt gegenüber den Opfern ausgefallen. "In diesem Jahr hat eine Gruppe sogar den Schuhplattler getanzt", erzählt Nadim und klatscht auf seine Oberschenkel. Nicht nur Christen, sondern auch viele Moslems seien gekommen, trotz ihrer religiösen Zurückhaltung dem Alkohol gegenüber. "Natürlich trinken sie", sagt Nadim. "Niemand glaubt ja auch im Ernst, alle Christen hätten keinen Sex vor der Ehe."
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Probleme mit den muslimischen Nachbarn gebe es in der Regel keine, betont Canaan. Eine andauernde oder systematische Benachteiligung aufgrund seiner Religion habe er in seinem Leben glücklicherweise nie erfahren müssen, so der 25-Jährige. Man könne die Situation nicht mit der im Libanon, in Syrien oder in Ägypten vergleichen, wo Christen zunehmend diskriminiert werden. "Wir haben hier wahrscheinlich genug mit den Israelis zu tun, so dass wir nicht auch noch untereinander Streit anfangen können", überlegt Canaan. Die muslimischen Arbeiter hätten am Anfang ein wenig gezögert, an der Herstellung eines verbotenen Getränks mitzuwirken, das war dann aber auch schon alles. Das Problem sei eher, dass die meisten Christen ihr Glück lieber an anderen Orten der Welt versuchen. Auch Canaan hat im Ausland studiert. Aber nach seinem Abschluss in Winzerei ist er nach fünf Jahren aus den USA nach Palästina zurückgekehrt. Es sei eine Entscheidung der emotionalen Art gewesen. "Besonders viel Sinn macht es nicht", findet auch Madees Khoury, Canaans Schwester. Auch sie war lange fern der Heimat: 14 Jahre lang hat sie in Boston gelebt und studiert.
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Das Bergdorf Taybeh mit seinen Kirchen, dem Kloster und einer byzantinischen Ruine haben die dort lebenden 1.400 palästinensischen Christen fast ganz für sich allein. Lediglich zwei Prozent der Gesamtbevölkerung machen Christen im Westjordanland noch aus
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Gemeinsam hat die Familie Khoury 2013 die Winzerei gegründet. Aber es ist schwierig, im Westjordanland ein profitables Geschäft zu betreiben. Seit der zweiten Intifada – dem fünfjährigen Konflikt zwischen Israel und Palästina, an dessen Beginn der Besuch des israelischen Politikers Ariel Scharon auf dem Tempelberg stand – hat sich der Tourismus nie wieder ganz erholt. Außerdem besitzen Palästinenser keine ausgeprägte Weinkultur. Das Unternehmen beruht größtenteils auf Exporten ins Ausland. Aber die Infrastruktur im Westjordanland macht internationalen Handel zu einer nervenaufreibenden Angelegenheit: Lediglich an den wenigen kommerziellen Checkpoints können Waren in Richtung Mittelmeer, zu den Häfen von Haifa und Akko, transportiert werden. Manchmal werden die Lastwagen vom israelischen Militär zurückgewiesen. "Den genauen Grund erfahren wir selten", sagt Canaan und klingt resigniert. Oder aber es herrscht dort so viel Andrang, dass die Ware tagelang in der Sonne warten muss und das Bier schließlich schal wird. "Dann müssen wir die Ladung wieder zurücknehmen und eine neue schicken." Hinzu kommt der chronische Wassermangel. Die drei jüdischen Siedlungen am Fuße des Berges von Taybeh hätten privilegierten Zugang zu Wasser, sagt Canaan. An sieben Tagen die Woche würden die Einwohner dort mit fließendem Wasser versorgt, während palästinensische Ortschaften oft nur ein- bis zweimal pro Woche für mehrere Stunden Wasser erhielten. Die Khourys haben deswegen einen unterirdischen Wasserspeicher gebaut. "Außerdem fülle ich immer die riesigen Biertanks, sobald wir Wasser haben. Davon zehren wir dann die ganze Woche."
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An diese Hindernisse haben sich die Khourys mittlerweile gewöhnt. Der Konflikt ist selbstverständlicher Teil des Alltags: "Ich denke gar nicht mehr darüber nach, warum es eine Straßenblockade gibt. Ich fahre einfach einen anderen Weg", sagt Canaan und gibt damit ein gelebtes Beispiel für die Mentalität vieler Bewohner des Westjordanlandes. Als man jedoch einen Teil der Weinanbaufläche wegen "Sicherheitsmaßnahmen" beschlagnahmt hat oder als einmal Siedler ein ganzes Weizenfeld niederbrannten, da habe er schon schlucken müssen, gibt er zu. Das seien die Momente, in denen er sich wieder nach dem unbeschwerten Leben in Kalifornien sehne. Aber das Familienunternehmen habe ihn gebraucht. Der Großvater habe ihn angefleht, zurück in die Heimat zu kommen. "Und wenn die Menschen, die es schaffen, hier etwas auf die Beine zu stellen, auch noch gehen, dann gibt es für diese Region wirklich keine Hoffnung."
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Heute Abend verkaufen die Khoury-Geschwister gemeinsam Honig, Olivenöl und Glühwein auf einem der beiden Weihnachtsmärkte in Ramallah. "Mein Bruder macht den Glühwein nach dem deutschen Rezept", erklärt Madees. Rotwein, Orangen, Zimt, Sternanis. "Die Leute fanden heißen Wein anfangs natürlich sehr seltsam", erinnert sich Canaan. "Aber er ist süß. Und Palästinenser lieben alles, was süß ist."
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Bilder: Yaakov Israel
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6.40 Uhr: Es sind noch acht Staaten offen. Alaska geht eh an Trump, und in vielen anderen sieht es gut für ihn aus: Wisconsin, Michigan, Pennsylvania, New Hampshire, Arizona. Bis auf Arizona wurden die 2012 alle von Obama gewonnen. Minnesota und Maine könnten noch an Clinton gehen, aber das wird nicht reichen.
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6 Uhr: Trump holt Georgia, Utah, Iowa … Er hat jetzt 244 Wahlmännerstimmen, Clinton 215. Es fehlen Trump also noch 26 Stimmen.
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Im einstigen sozialdemokratischen Herzland, der größten Industrieregion der USA, droht für Clinton der finale Schlag. Sollte sie weder Michigan noch Wisconsin gewinnen, wird es für Clinton unmöglich, die Wahl zu gewinnen.
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Clinton gewinnt jede Menge Stimmen, aber nur dort, wo es eh erwartet worden war: Kalifornien, Oregon. Es steht damit zwar jetzt 202 zu 187 zugunsten von Clinton, aber es bleibt dabei: Trump holt die entscheidenden Wackel-Staaten und fügt sie den vielen eh eisern republikanischen Staaten hinzu. Genau das geschieht nun auch mit North Carolina.
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Die "New York Times" berichtet, dass die Leute auf der Party in Trumps Hotel in Washington rufen: "Sperr sie ein". Sie meinen damit Hillary Clinton.
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Jetzt kommt es wohl auf die Staaten um die großen Seen an: Michigan, der problembeladene Autostaat, und Wisconsin. Nach der Auszählung der Hälfte der Stimmen liegt Trump auch hier vorn.
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4.45 Uhr: Trump holt wohl auch Florida. Zumindest melden das AP und Politico. Dabei war zuvor viel darüber spekuliert worden, ob die große Zahl der lateinamerikanisch stämmigen Frühwähler nicht für Clinton spräche.
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Der Albtraum der Demokraten nimmt Gestalt an. Weißes Haus, Repräsentantenhaus, Senat und letztlich auch das Recht, die vakanten Richterposten im Supreme Court auf lange Zeit mit gewogenen Kandidaten zu besetzen – das alles scheint an die Republikaner zu gehen.
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Clinton hatte die volle Unterstützung ihrer Partei, sie hatte wesentlich mehr Geld als Trump, konnte sich auf den Wahlkampfapparat von Obama stützen, die meinungsführenden Blätter waren auf ihrer Seite – aber all das könnte nichts genutzt haben.
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4.30 Uhr: Ohio geht an Trump. Der Staat, den Obama 2012 mit zwei Prozentpunkten mehr als Mitt Romney knapp gewonnen hatte.
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Die Frage, die ziemlich groß im Raum steht: Kann Hillary Clinton ohne Florida und Ohio gewinnen?
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"This team has so much to be proud of. Whatever happens tonight, thank you for everything" twittert Hillary Clinton. Das klingt nicht sehr zuversichtlich. Obama schreibt: "Egal, was passiert, morgen geht die Sonne auf."
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Oje. Das ZDF zeigt Bilder von der Wahlparty der Demokraten. Aber was heißt überhaupt Party. Man sieht traurige, kopfschüttelnde, ja sogar weinende Menschen. Ganz anders die Bilder von Trumps Party. Jubelnde Menschen, die den deutschen Reportern drohen, dass Trump nun auch nach Deutschland komme, um dort aufzuräumen.
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Und dann wurde es doch noch ein haushoher Sieg: das Empire State Building in New York am Wahlabend
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Das, was viele nicht wahrhaben wollen, nimmt zumindest vage Konturen an. Vielleicht ist es doch so, dass sich viele Trump-Wähler in den Umfragen nicht zu ihm bekannt haben – aber in der Wahlkabine.
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3.35 Uhr: Laut "New York Times" liegt Clinton in fünf von sechs Schlüsselstaaten hinten. Nur in Pennsylvania nicht. In Florida, Virginia, New Hampshire, North Carolina und Ohio hat Trump einen Vorsprung. Aber noch sind ja nicht alle Stimmen ausgezählt.
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3.30 Uhr: Im Clinton-Lager wächst die Nervosität. Bei 93 Prozent ausgezählten Stimmen liegt Trump in Florida mit 49 zu 48 Prozent knapp vorne. Eine Reporterin der New York Times berichtet, dass die Stimmung auf der Wahlparty der Republikaner steigt und sie aufgefordert wurde, schon mal das für viele Unaussprechliche zu üben: "Präsident Trump".
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Keine Überraschung: Das Repräsentantenhaus bleibt republikanisch. Diese Kammer im Kongress wird von den Republikanern regiert. Sollte Clinton gewinnen, wäre nun zumindest eine Mehrheit im Senat wichtig, damit die Demokraten wenigstens wichtige politische Ämter wie die Verfassungsrichter ernennen, und die Republikaner keinen eigenen Gesetze durchbringen können.
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Stand jetzt: 123 zu 97 Wahlmännerstimmen für Trump. 270 muss der Sieger gewinnen.
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3 Uhr: Zwei bevölkerungsreiche Staaten wählen unterschiedlich und wie immer: Texas geht mit 38 Stimmen an Trump, New York State mit 29 an Clinton.
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2.30 Uhr: Die "New York Times" spekuliert, dass Ohio an Clinton fallen könnte. Das wäre eine echte Überraschung, weil Trump in den letzten Umfragen relativ deutlich vorn lag.
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Verschiedene Medien berichten, dass nicht so viele Schwarze zur Wahl gegangen sind wie vor vier Jahren. Dafür aber dürften mehr Latinos zur Wahl gehen, nicht zuletzt, weil Trump dezidiert Einwanderer aus Lateinamerika beleidigt hatte. Insgesamt können 27,3 Millionen lateinamerikanischstämmige Amerikaner wählen – vier Millionen mehr als 2012, als Barack Obama gegen Mitt Romney antrat. Damals waren über 50 Prozent der Latinos nicht zur Wahl gegangen. In Staaten wie Florida kann ihre Stimme den Ausschlag geben.
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2 Uhr: Keine großen Überraschungen: Trump holt unter anderem South Carolina, Oklahoma, und Tennessee, Clinton New Jersey, Massachusetts, Washington DC, Delaware, Rhode Island und Illinois. Spannend wird es tatsächlich in Florida. Dort liegen die beiden Kandidaten Kopf an Kopf.
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1.30 Uhr: West-Virginia geht mit fünf Stimmen an Trump. Natürlich hat niemand damit gerechnet, dass Hillary Clinton in den stramm republikanischen Staaten irgendwas gewinnen kann, und dennoch sind manche Ergebnisse schon jetzt bemerkenswert. So hat sie im Osten von Kentucky und in Teilen von West Virginia gerade mal 20 Prozent bekommen. Gegenden, die ihr Mann Bill Clinton bei den Wahlen 1992 und 96 für die Demokraten noch gewinnen konnte.
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1 Uhr: Vermont geht mit drei Wahlmännerstimmen an Hillary Clinton, acht Stimmen aus Kentucky und elf aus Indiana an Trump. Alles keine Überraschung. Kentucky ist einer dieser Staaten mit sterbenden Industrien (Auto, Kohle), wo viele arme weiße Amerikaner leben, die sich abgehängt fühlen. Trumps Kernwählerschaft. Das Bruttoinlandsprodukt von Kentucky gehört zu den niedrigsten aller Staaten. Nur Whiskey gibt's reichlich.
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24 Uhr: Die Auszählungen gehen los, und die "Washington Post" scheint ihre Reporter direkt in der Wahlkabine zu haben. Sie verkündet bereits die ersten Zwischenergebnisse. Nach Sichtung von zehn Prozent der Wahlzettel haben sich im bestimmt schönen Coos County, New Hampshire, 26 Menschen für Trump entschieden, 18 für Clinton.
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Die "New York Times" berichtet in ihrem Newsticker, dass die Stimmung im Trump-Lager den ganzen Tag über eher bedrückt war. Am Morgen hätten sich einige Berater noch vorsichtig optimistisch gegeben, später habe man auf die Frage nach der Stimmung geantwortet: "Not great."
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Hohe Wahlbeteiligung, lange Schlangen vor den Wahllokalen, Unterstützer von Hillary Clinton am Grab der 1906 verstorbenen Frauenrechtlerin Susan B. Anthony. Das sind so die Meldungen, bevor die lange Wahlnacht losgeht. In den Umfragen liegt Hillary Clinton leicht vorn, aber es wäre ja nicht die erste Wahl, die die Prognosen Lügen straft. Remember Brexit.
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fluter/D%C3%A4nemark-will-Syrer-abschieben.txt
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Der Arabische Frühling war eine Welle von Protesten und Revolutionen in vielen Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens. Dabei protestierten die Menschen vor zehn Jahren auch in Syrien für Freiheit, Gerechtigkeit und das Ende der Willkürherrschaft von Diktator Baschar al-Assad. Der antwortete mit Gewalt. Bald brach ein Bürgerkrieg aus, in den bis heute Staaten wie Russland, Iran, die Türkei oder Saudi-Arabien eingreifen. Mehr zum Thema seht ihrim Atlas des Arabischen Frühlings
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Auch Bilal lebte vor seiner Flucht mit seinen Eltern und drei Geschwistern in der Nähe von Damaskus. Er war gerade zehn, als sich 2011 Tausende Syrer:innen im sogenannten "Arabischen Frühling" gegen das Regime Baschar al-Assads erhoben. Der Krieg hält bis heute an und kostete laut Schätzungen eine halbe Million Menschen das Leben. Mehr als zwölf Millionen Syrer:innen sind auf der Flucht, der größte Teil innerhalb Syriens und in benachbarten Staaten. Etwa 35.000 Syrer:innen kamen nach Dänemark, meist über diegefährlichen Mittelmeer- und Balkanrouten.Die Bomben, die Leichenteile, die Angst – all das wollte Bilal vergessen, als er in Dänemark ankam.
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"Wir haben alles hinter uns gelassen", sagt Bilal am Telefon. Die Flucht nach Europa trat er vor fünf Jahren ohne seine Familie an: Sein Vater war vorausgegangen und holte die anderen nach. Heute lebt Bilal mit seinen Eltern und seinen Geschwistern in Randers, einer beschaulichen Stadt in Jütland. In Sicherheit, aber nicht unbeschwert: "Der Krieg hat uns hart gemacht", sagt Bilal. Zu viel sei passiert, ein neues Leben aufzubauen koste Kraft.
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Gerade versucht Bilal seinen Schulabschluss zu machen. Das mit dem Dänisch werde immer besser, aber viel Zeit zum Lernen habe er nicht. Um seine Familie zu unterstützen, fährt er mit dem Fahrrad Essen aus, arbeitet bei einer Zeitarbeitsfirma und im Café. Anders als Schwester, Mutter und Vater haben Bilal und seine Brüder politisches Asyl erhalten, weil ihnen als jungen Männern in Syrien Militärdienst droht. Die anderen sollen gehen. "Als ich davon erfahren habe, ließ ich alles stehen und liegen und bin nach Kopenhagen gefahren", sagt Bilal.
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Seit die Entscheidung der Behörden im Frühling 2021 auch international bekannt wurde, rufen betroffene Syrer:innen und ihre Unterstützer:innen in verschiedenen dänischen Städten zu Demonstrationen auf. Mitte Mai errichteten sie ein Protestcamp vor dem Parlament in Kopenhagen, manche gingen sogar in den Hungerstreik. Bilal war nach einigen Tagen vor dem Parlament frustriert: Die Presse berichtete nur sporadisch. Und Mette Frederiksen, die dänische Ministerpräsidentin, habe absichtlich einen Nebenausgang des Parlaments benutzt, um den Fragen der Protestierenden zu entgehen.
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"Kennen die Dänen Caesar nicht?", fragt Bilal. Caesar ist der Deckname eines Militärfotografen, der Tausende Bilder von misshandelten und getöteten Menschen aus syrischen Gefängnissen ins Ausland schmuggelte und anschließend nach Europa floh. Bilal fürchtet, dass seiner Familie das Schicksal von Caesars Motiven droht, wenn sie nach Syrien zurückkehren. Laut dem Syrischen Netzwerk für Menschenrechte sind allein 2019 mehr als 600 Menschen nach ihrer Rückkehr in Syrien verschwunden, 15 starbendurch Folter.
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Weiterlesen:
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Dänemark listet bestimmte Wohngebiete offiziell als "Ghettos" –in einem ist der verstorbene Dichter Yahya Hassan aufgewachsen
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Diese Zahlen scheinen die Regierung in Kopenhagen nicht umzustimmen. Dänemark versucht schon seit Beginn der 2000er-Jahre, mit einer strengen Asyl- und Integrationspolitik die außereuropäische Einwanderung ins Land zu verringern – etwa durch die sogenannten "Ghetto"-Gesetze in migrantisch geprägten Vierteln.
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Im Januar erklärte Ministerpräsidentin Frederiksen, dass sie die Anzahl neuer Asylanträge auf "null" reduzieren wolle. Und kürzlich verabschiedete das Parlament ein Gesetz, aufgrund dessen Dänemark Asylsuchende ohne Verfahren in Länder außerhalb der Europäischen Union ausfliegen darf. Bis über ihren Asylantrag entschieden ist, sollen die Menschen dort in sogenannten Asylzentren ausharren, was von der Europäischen Union und der UNO kritisiert wurde. Einzelnen afrikanischen Staaten hat Dänemark bereits Geld und Unterstützung angeboten, um solche Asylzentren zu bauen. Bisher lässt sich kein Land darauf ein.
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Die 22-jährige Jawaher engagiert sich ehrenamtlich für diejenigen, die vor der Abschiebung stehen: "Für mich ist dieser Aktivismus nur menschlich"
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Wie in anderen Ländern Europas sind rechtspopulistische Parteien in den vergangenen Jahren auch in Dänemark stärker geworden. Sie haben die politische Debatte verändert. Bei der letzten Parlamentswahl 2019 traten die dänischen Sozialdemokrat:innen deswegen mit einem gemischten Programm aus rechten und linken Positionen an: höhere Steuern für Reiche, mehr Geld für Bildung, aber auch härtere Einwanderungs- und Asylpolitik. Auch das könnte dazu beigetragen haben, dass die rechtspopulistische Dänische Volkspartei zwölf Prozentpunkte verlor.
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Dieser Strategie folgt womöglich auch die Entscheidung, die Region um Damaskus als sicher einzustufen und damit Abschiebungen theoretisch wieder möglich zu machen. Praktische Folgen hat das bisher noch nicht, denn abschieben kann nur, wer diplomatische Beziehungen zum Herkunftsland unterhält. Das ist zwischen Dänemark und dem Assad-Regime nicht der Fall. Die dänische Botschaft in Damaskus ist seit 2012 geschlossen. Genauso die deutsche Botschaft. Eine Möglichkeit, "Straftäter" nach Syrien abzuschieben, wie es immer wieder Politiker:innen in Deutschland fordern, besteht daher nicht. Es gibt aber eine andere Möglichkeit: die Rückkehrförderung. Migrant:innen bekommen Geld, wenn sie das Land freiwillig wieder verlassen. Solche Programme existieren sowohl in Deutschland als auch in Dänemark. Grundsätzlich argumentieren viele Politiker:innen, dass die freiwillige Rückkehr die bessere Lösung ist. Oftmals kostet sie den Staat sogar weniger als eine Abschiebung. Aber wenn Syrer:innen in Dänemark nun ohne Aufenthalt dastehen, kein anderes Land finden, das sie aufnimmt, oder das Geld zur Rückkehr nicht annehmen, bleibt denen, die nicht zurückkehren wollen, nur die Flucht in den Untergrund. Oder das Leben in einem Abschiebelager. Dort dürfen Menschen weder arbeiten noch studieren – ein Dämmerzustand auf unbestimmte Zeit.
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Es gibt die sogenannte "residency granted to a non-deportable person". Dieser Aufenthaltsstatus ähnelt der deutschen "Duldung", wirdlaut Danish Refugee Councilaber extrem selten vergeben – und erst dann, wenn die Behörden eine Person mindestens 18 Monate lang nicht abschieben konnten.
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Bilals Familienmitglieder haben inzwischen Einspruch gegen das Auslaufen ihrer Aufenthaltsgenehmigungen eingelegt. In den nächsten Tagen soll eine Antwort mit der Post kommen. Das Warten zehrt an der Familie.
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Diese Situation soll möglichst vielen Syrer:innen erspart bleiben, sagt Jawaher. Die Kurdin ist 2015 aus dem nordsyrischen al-Hasaka nach Dänemark geflüchtet. Die 22-Jährige lebt heute nahe Kopenhagen, spricht akzentfrei Dänisch und engagiert sich seit vier Jahren bei einer Organisation, die sich für die Integration von Migrant:innen in Dänemark einsetzt. Als immer mehr syrische Familien Post von der Einwanderungsbehörde bekamen, wurde dieses freiwillige Engagement fast zum Vollzeitjob für Jawaher. "Ich versuche, die Familien zu beraten, und besorge ihnen die Nummer von Anwälten", sagt sie. Jawaher appelliert aber auch an die dänische Öffentlichkeit. Unter dem Label "Die Abgelehnten" erzählt Jawaher auf Facebook und Instagram von den Schicksalen der Syrer:innen. "Für mich ist dieser Aktivismus nur menschlich", sagt Jawaher. Aber ihre Mutter mache sich schon Sorgen, weil sie sich dabei immer wieder gegen das Assad-Regime ausspricht. Und gerade wird auch Jawahers Aufenthaltsstatus von den Behörden geprüft: Es gibt im dänischen Parlament Überlegungen, weitere Gebiete in Syrien als "sicher" einzustufen.
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Wegen ihres Einsatzes für andere Syrer:innen war Jawaher Anfang Juli zu einem großen Musikfestival in Dänemark eingeladen. "Nach dem Sommer möchte ich mit der Uni beginnen", sagte sie in ihrer Rede: "Ich bin also in einer Situation, in der ich nicht weiß, ob es die Schultüte oder der Koffer ist, den ich packen werde."
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Jetzt, nach 25 Jahren, frage ich mich: Wie erging es anderen Betroffenen, die ihre Akten einsahen? Wie leben sie mit den Erkenntnissen? Wer hilft ihnen? Würden sie die Akte noch mal einsehen, wenn sie die Zeit zurückdrehen könnten? War es für viele nicht auch befreiend, endlich zu wissen, wo sie dran waren? Und was ist mit denen, die eine Akte haben, sie aber bis heute nicht einsehen wollen?
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Unser Artikel ist bebildert mit Aufnahmen, die der Künstler Simon Menner 2011 in den Archiven der Stasi entdeckt hat und in dem Bildband "Top Secret" veröffentlicht hat. Es sind Fotos, die die Arbeitdes Überwachungs- und Unterdrückungsapparates Staatssicherheit dokumentieren. Dies obigen Bilder zum Beispiel sind nachgestellte Szenen von Observationen, die in der Schulung angehender Agenten verwendet wurden.
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Im Lesesaal der Außenstelle Leipzig treffe ich Herrn Richter. Er hat den mittlerweile dritten "Wiederholungsantrag" gestellt, und jedes Mal taucht neues Material auf. Material, das 1993 bei seiner ersten Akteneinsicht noch nicht gefunden oder nicht zugeordnet werden konnte. Herr Richter war damals in der Arbeitsgruppe Menschenrechte in Leipzig aktiv. Sie vernetzten sich mit anderen Oppositionellen, stellten Westkontakte her, dokumentierten Fälle von Menschenrechtsverletzung und organisierten Friedensgebete. "Wir waren uns der Überwachung durchaus bewusst. Gehindert hat uns das in unserer Arbeit nicht, wir waren eben vorsichtig", erklärt er. Deshalb habe er 1992 auch gleich einen Antrag gestellt, um herauszufinden, wer was über ihn und seine Freunde geschrieben hat.
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Ich frage ihn, was er sich von der Einsicht versprach. "Das Interesse war weder damals noch heute von einem ‚Rachegedanken' getragen", sagt Richter. "Gleichwohl erwartete ich ein Stück weit Gewissheit – und die habe ich bekommen." Denn durch die Akteneinsicht konnte seine Angst ausgeräumt werden, dass möglicherweise seine engsten Freunde der Stasi Informationen zugespielt hätten. "Das war eine große Erleichterung." Von denen, die ihn dann tatsächlich als inoffizielle Mitarbeiter (kurz: IM) bespitzelt hatten, hätte er sich das schon denken können. Mit denen habe er nach der ersten Einsicht allerdings nie gesprochen, und es sei auch nie einer direkt auf ihn zugekommen.
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Ich finde das seltsam. Wieso redet keiner darüber? Auch mein Opa hat mit keinem der ehemaligen IM gesprochen, stattdessen all seine Enttäuschung in sich hineingefressen. "Hätte er sich diese Akte doch bloß nie angesehen!", schimpft meine Oma noch heute. Ich selbst kann meinen Opa nicht mehr fragen, ob er die Akte lieber doch nicht eingesehen hätte, könnte er die Zeit zurückdrehen. Vor ein paar Jahren ist er gestorben.
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Herr Richter hingegen hat keinen Zweifel. Er würde seine Akte immer wieder einsehen, um ein möglichst vollständiges Bild von der Vergangenheit für sich selbst zu erhalten.
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Es muss schlimm sein zu erfahren, dass Freunde und Nachbarn einen bespitzelt haben. Während meine Großeltern im Urlaub waren, haben ihre Nachbarn, die zum Blumengießen einen Schlüssel hatten, ihre Wohnung durchsucht. Und alles nur, weil mein Opa nie ein Blatt vor den Mund genommen hat und weil er bei einigen Leuten im Dorf Antennen für den Westempfang angebracht hat. Im Stasijargon hieß das: "störendes Mitglied auf Parteiversammlungen" und "organisierter Bau von Fernsehantennen für den Empfang des Westfernsehprogramms". Mein Opa war überzeugter Sozialist beziehungsweise Kommunist. Ein Vorzeigearbeiter, wie ihn Marx sich nicht besser hätte wünschen können. Er hatte proletarisches Klassenbewusstsein, war politisch top informiert und besaß einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit. Nur irgendwann merkte mein Opa eben, dass Theorie und Praxis immer weiter auseinanderklafften. Selbst von seinen Erwägungen, aus der SED auszutreten, wusste die Stasi. Doch dann fiel die Mauer. Und mit ihr ein System, an dessen reale Ausformung mein Opa zwar zum Ende hin nicht mehr glaubte, dessen Utopie er aber so gerne mal verwirklicht gesehen hätte. Den gelebten Sozialismus.
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Die Staatssicherheit führte oft heimliche Wohnungsdurchsuchungen durch. Viele Bewohner erfuhren erst nach der Wende von diesen staatlich verordneten Einbrüchen. Damit die möglichst spurlos vonstatten gingen, nutzten die Stasi-Mitarbeiter Polaroid-Kameras, um vor der eigentlichen Durchsuchung Sofortbilder anzufertigen. So konnten sie im Anschluss alles wieder in die ursprüngliche Position bringen. Das Filmmaterial für die Kameras wurde in Westdeutschland eingekauft – oder bei der routinemäßigen Öffnung privater Postsendungen aus dem Westen beschlagnahmt.
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Minutiös gibt der IM ein Gespräch wieder, in dem mein Opa mit einem Kollegen über die schlechte Wirtschaftslage und das schlechte Fernsehprogramm der DDR schimpft. Diese exakte Dokumentation erscheint mir surreal. Meine Oma ärgert sich stattdessen über die Verzerrung bestimmter Sachverhalte und falsch gedeutete Beobachtungen der inoffiziellen Mitarbeiter. So hätten sich Opa und ihre Schwester entgegen einer Einschätzung eines IM sehr gut verstanden! Trotz der flächendeckenden Überwachung der DDR-Bevölkerung hat die Stasi also nicht alles richtig interpretiert und auch nicht alles mitgekriegt.
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Darüber freut sich Ralf Bartholomäus nach seiner Akteneinsicht. Seit 30 Jahren leitet er die Galerie Weißer Elefant in Berlin-Mitte. Schon damals verkehrte er in Karl-Marx-Stadt (Chemnitz) und dann später in Berlin in Künstler- und Intellektuellenkreisen. Früh setzte die Stasi deshalb IMs auf ihn an. Vor allem aufgrund seines Briefwechsels mit dem Schriftsteller und DDR-Dissidenten Reiner Kunze, aber auch, weil er Teil einer "negativen Gruppe Jungerwachsener" war, wie es damals offiziell hieß. Um dazuzugehören, reichten schon seine Freundschaften mit Künstlern, das Vorhaben, mit oppositionellen Künstlern in Kontakt treten zu wollen, und seine damalige Arbeit in einer Galerie und einem Kulturladen. "Die wirklich wichtigen Dinge aber, die hat selbst die Stasi nicht mitgekriegt. Man durfte sich halt nicht erwischen lassen", sagt er schmunzelnd.
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Wenn in der DDR die Post abging: Gerne überwachte die Stasi auch Briefkästen und fotografierte jede Person, die einen Brief einwarf. Auf einigen Filmen ist dann noch zu sehen, wie Personen in Zivil die Kästen im Anschluss an die Observierung leeren
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Bartholomäus stellte erst vor wenigen Jahren einen Antrag auf Akteneinsicht. Er konnte sich nicht erklären, wieso sich bestimmte Menschen in der Zeit des Mauerfalls und danach von ihm distanzierten. Er suchte Antworten. Vor allem eine sehr gute Freundin brach plötzlich den Kontakt ab. Vor ein paar Jahren dann stellte er sie zur Rede. Sie war sich sicher, dass er sie verraten hatte. Das stimmte nicht, aber nun wusste er, woher diese plötzliche Distanzierung rührte, die er auch mit anderen Bekannten schon erlebt hatte. Das war für ihn der Anstoß, seine Akte zu beantragen. Mit der Einsicht klärte sich dann vieles auf. Aber vor allem hatte er nun das Schriftstück in den Händen, das bewies: Er hatte nie für die Stasi gearbeitet, sondern wurde selbst bespitzelt, stand sogar fälschlicherweise unter Spionageverdacht.
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Stefan Trobisch-Lütge von der Beratungsstelle Gegenwind für politisch Traumatisierte der SED-Diktatur in Berlin-Moabit erklärt, der späte Antrag von Bartholomäus sei kein Einzelfall: "Es gibt viele Menschen, die erst jetzt bereit sind oder für die es erst jetzt relevant ist, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen." Zwar nehmen die Anträge auf persönliche Akteneinsicht jährlich leicht ab, aber die Zahl ist immer noch hoch. Allein 2016 beantragten 48.634 Menschen Akteneinsicht, 27.348 davon waren Erstanträge.
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Ich frage mich, warum es solch eine Anlaufstelle, in der die Antragsteller vor und nach ihrer Akteneinsicht mit drei Psychologen Gespräche führen oder sich in der Gruppe mit anderen Betroffenen austauschen können, nicht auch für meinen Opa gab. Herr Trobisch-Lütge erklärt mir, dass es weiterhin schwer sei, die Menschen auf den kleinen Dörfern zu erreichen. Insgesamt überwiege für die Mehrheit der Menschen, die Einsicht in ihre Akte genommen haben, das positive Erlebnis des Erkenntnisgewinns gegenüber den menschlichen Enttäuschungen. Letztlich müsse aber jeder selbst entscheiden, ob er oder sie die Akten einsehen oder herausfinden will, ob es überhaupt eine Akte gibt.
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Da fasst man sich an den Kopf: Diese Bilder kamen als Lehrmaterial in einem Seminar zum Einsatz, in dem angehenden Agenten beigebracht wurde, wie geheime Zeichen zu übermitteln sind
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Manche Menschen wollen die Vergangenheit einfach nur ruhen lassen. Zum Beispiel meine Mutter. Auch von ihr gibt es, so die Vermutung, in irgendeiner Stasi-Außenstelle in Mecklenburg-Vorpommern noch eine Akte. Ihre Freundin hatte damals versucht, zu ihrem Freund in den Westen zu fliehen. Klar war meine Mutter da auch involviert. Schließlich ging es um Liebe. Und schon stand die Stasi bei ihr vor der Tür – und ein Vermerk in der Akte meines Opas.
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Es ist der 25. Dezember 2016. Meine Mutter, meine Tante, meine Oma und ich sitzen am Weihnachtstisch. Topthema: die Stasi und die Akten. Meine Tante mahnt, dass ich die Zeit damals nicht einfach schwarz-weiß in Opfer und Täter einteilen soll. Viele hätten auch für die Stasi gearbeitet, weil sie selbst unter Druck gesetzt wurden. Auch meine Oma weiß von vielen Bekannten zu berichten, die nur studieren konnten, weil sie mit der Stasi kooperierten. "So war das eben damals, trotzdem: Uns ging es gut", sagt meine Oma.
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"Die DDR ist für mich Vergangenheit, ich lebe jetzt", sagt meine Mutter. Ihre Entschiedenheit wirft für mich Fragen auf: Gibt es da möglicherweise Dinge, die ich nicht wissen soll? Oder woher kommt diese absolute Weigerung?
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Ich kann ihre Akte leider nicht beantragen. Diese Möglichkeit besteht seit 2011 zwar für Angehörige von Vermissten oder bereits Verstorbenen, aber nur, "wenn ein berechtigtes Interesse vorliegt" und kein gegenteiliger Wille des Betroffenen bekannt ist. Meine Mutter beendet das Gespräch mit den Worten: "Es war keine einfache Zeit. Letztendlich habe ich aber sehr viel Glück gehabt." Ihr klares Nein lässt mich schweigen. Stattdessen träume ich wie mein Opa von einer Zukunft, in der der gelebte Sozialismus ohne Überwachung Realität wird.
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Auch eine Observation scheint manchmal langweilig gewesen zu sein. Dieser Agent hier hatte jedenfalls nichts besseres zu tun, als sich währenddessen selbst zu fotografieren
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Denn darum geht es eigentlich für mich als Kind der dritten Generation, das dieses Land namens DDR nur aus Familiengeschichten, Büchern, Filmen und Fernsehdokumentationen kennt: Ich bin ebenso tief enttäuscht wie mein Opa, dass der Sozialismus, den sich die DDR auf die Fahnen schrieb, nur mit einer Bespitzelung seiner eigenen Bürger zu haben war. Für mich stehen diese Akten und ihre Einsicht also nicht nur für eine aktive Geschichtsaufarbeitung gerade in Zeiten, da wieder über mehr Befugnisse für Polizei und Sicherheitsdienste diskutiert wird, sondern vor allem für die Frage: Was kann man daraus für ein zukünftig anderes Gesellschaftsmodell lernen?
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Klar wünschte ich deshalb, meine Mutter würde ihre Akte doch noch beantragen. Aber ich verstehe auch, dass manche Wunden nicht mehr aufgerissen werden müssen. Den Herren Richter und Bartholomäus hat die Einsicht zu Aufklärung und auch Befreiung verholfen, denn beide hatten konkrete persönliche Fragen. Ganz anders meine Mutter. Die hat keine Fragen mehr. Sie kann sich offenbar auch so denken, was in den Akten steht. Meinem Opa hingegen ging es nicht so sehr um persönliche Aufklärung, sondern vor allem darum, seinen Staat, die DDR, zu verstehen. Zumindest ein wenig hat er das durch die Einsicht wohl auch erreicht. Deshalb würde er, da bin ich mir ziemlich sicher, seine Akte immer wieder einsehen – trotz alledem.
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Titelbild: Nach dem Fall der Mauer versuchten Stasi-Mitarbeiter, im großen Stil Unterlagen zu vernichten. Viele Dokumente sind tatsächlich verloren gegangen, andere wurden aus Bruchstücken rekonstruiert. Auch einige Bilder aus den Archiven zeigen Spuren des Vernichtungsprozesses.
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fluter/Dawod-Adils-Flucht-aus-Afghanistan.txt
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Dann ging es über eine weitere Grenze: etwa 18 Stunden zu Fuß durch die Berge. Am Nachmittag liefen sie los, erst am Morgen kamen sie im Iran an – das Land, das neben Pakistan die meisten afghanischen Flüchtlinge aufnimmt. Am Tag versteckten sie sich und schliefen, nachts fuhren sie mit 16 Personen in einem kleinen Transporter über die Autobahn nach Teheran. Dabei lagen sie so eng beieinander, dass Adil kaum Luft bekam. Ich habe geklopft, sagt er, doch einer der Schleuser drohte, ihn zu erschießen.
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Nachts kamen sie an die Grenze zur Türkei: Wieder ging es zu Fuß durchs Gebirge – in einer Schlange mit Frauen und Kindern. Es war November, kalt, Kinder weinten. Als sie in einem Lager eine Decke anhoben, fanden sie eine Leiche darunter. Das Bild verfolgte Adil lange in seinen Träumen. Er wusste, dass auf der Route viele Afghanen getötet wurden, und tatsächlich fielen plötzlich Schüsse. Die iranische Grenzpolizei verletzte zwei seiner Bekannten. Um sich zu beruhigen, las Adil Verse im Koran. "Damals war ich gläubiger", sagt er.
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In Istanbul fühlten sie sich zum ersten Mal seit Tagen in Sicherheit. Sie konnten sogar einfach einkaufen gehen – ohne die Angst, aufgegriffen oder erschossen zu werden. Dann ging es weiter – Richtung Griechenland. Die Schleuser ließen sie am Strand vor einem Schlauchboot zurück, das sie selbst aufpumpen mussten. 16 Menschen sollten damit über das Meer, für sieben war es ausgelegt.
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Wieder musste Adil entscheiden, ob er sein Leben aufs Spiel setzen wollte. Obwohl er nicht schwimmen kann, stieg er in das Boot. Als schon nach kurzer Zeit Wasser hineinlief, fuhren sie zurück zum Strand. Eine Familie stieg aus und weigerte sich mitzufahren. Auch Adils Freund Farid blieb zurück. Dann starteten sie einen zweiten Versuch und erreichten nach stundenlanger Fahrt eine griechische Insel in der Ägäis. "Ab da war es einfach", sagt Adil. Tatsächlich hielt ihm niemand mehr eine Waffe ins Gesicht, es gab kein Meer mehr zu überqueren und keine Luftnot in überfüllten Laderäumen. Zu Fuß, im Bus und mit dem Zug erreichte Adil nach einem Monat auf der Flucht Deutschland.
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Die Wüste, die Berge, das Meer, die Taliban, die bewaffneten Grenzer – Adil hat viel riskiert. Aber hat es sich gelohnt? War es das alles wert?
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Adil sitzt auf einer Schlafcouch in einem etwa acht Quadratmeter großen WG-Zimmer in Berlin und muss nicht lange überlegen. Ja, es hat sich gelohnt. Er lebt, er ist sicher. Vorerst zumindest, denn sein Asylantrag ist abgelehnt worden und er nur geduldet. Das bedeutet, dass er Deutschland verlassen muss – nur nicht sofort, da seine Abschiebung vorübergehend ausgesetzt ist.
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Vielen Afghaninnen und Afghanen droht die Abschiebung,obwohl die Taliban in ihrem Land gerade wieder zunehmend Terror verbreiten. Wenn Adil die Angst überkommt, abgeschoben zu werden, sagt er sich: Er hat ja schon ganz anderes geschafft.
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Und damit meint er nicht nur die Flucht, denn die Jahre danach in Deutschland waren auch nicht einfach. Keine Berge, aber Ämter. Kein Meer, aber eine Flut von Bestimmungen. Jahrelang teilte er sich mit zwei weiteren Geflüchteten ein Zimmer in einem Flüchtlingsheim in Herzberg in Brandenburg. Als er einen festen Job als Videojournalist in Berlin fand, konnte er nicht dort hinziehen – wegen der Residenzpflicht in Brandenburg. Die bedeutet, dass Geflüchtete, deren Asylverfahren nicht abgeschlossen ist, nur in einem vom Amt bestimmten Bereich wohnen dürfen. Jeden Morgen musste Adil deshalb anderthalb Stunden mit dem Zug nach Berlin pendeln und abends zurück. Wenn er den letzten Zug zurück um 21.35 Uhr verpasste, schlief er am Bahnhof.
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Eine Anwältin schaffte es schließlich, dass sein Fall nach Berlin verlegt wurde und er dort hinziehen konnte. Eine Arbeitskollegin vermittelte ihm das WG-Zimmer, in dem er nun seit gut einem Jahr lebt. Adil findet, dass er es weit gebracht hat. Er arbeitet, er wartet auf gute Nachrichten vom Amt, er hört in seinem Zimmer persische Musik und trinkt schwarzen Tee mit Kardamom. Wenn er aktuelle Nachrichten aus Afghanistan hört, wacht er nachts oft auf – weil ihm die Bilder von seiner Flucht durch den Kopf gehen. Aus der Zeit, in der er beschloss, alles zu riskieren. 4.777 Kilometer von hier entfernt.
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Sansals Roman ist eine bitterböse – oder vielleicht eher tieftraurige Phantasie darüber, wie es aussehen könnte, wenn der islamistische Fundamentalismus die Weltherrschaft übernähme. Zusammen mit Michel Houellebecqs Roman "Unterwerfung", worin ein radikaler Islamist französischer Staatspräsident wird, war "2084 – Das Ende der Welt" in Frankreich der meistdiskutierte Roman des letzten Jahres. Das sagt noch nichts aus über die tatsächliche Zukunft des Islamismus, aber viel über den Zustand der französischen Gesellschaft. Zumal wenn ein Roman zum preisgekrönten Bestseller wird, der wirklich alles andere als leichte Lektüre ist.
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Boualem Sansal: "2084 – Das Ende der Welt". Aus dem Französischen von Vincent von Wroblewsky. Merlin Verlag, 288 S., 24 Euro
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Es sei sehr schwer gewesen, einen ganzen Roman mit nichts zu füllen, sagte Boualem Sansal vor einiger Zeit in einem Interview mit dem Deutschlandfunk. Für seine Leser auf der anderen Seite ist es schwer, das Nichts auszuhalten. Das liegt zum Teil daran, dass es im gesamten Roman praktisch keine echten Personen gibt. Natürlich spielen Menschen eine Rolle, die auch namentlich eingeführt werden, aber sie werden niemals charakterlich so weit ausgestaltet, dass sie als Personen wirklich voneinander unterscheidbar würden. Das trifft sogar auf den Protagonisten zu, dessen Geschichte der Roman verfolgt, einen Mann namens Ati, der zu Beginn in einem abgelegenen Sanatorium gegen Tuberkulose behandelt wird. In der dortigen Leere infiziert er sich mit dem Virus des Zweifels an der herrschenden Gesellschafts- und Religionsordnung, die er vorher nie hinterfragt hatte.
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Wie Ati mit einer Karawane zurückkehrt in das besiedelte "Viertel" Abistans, aus dem er stammt; wie er auf dem Weg eine Begegnung hat mit einem anderen, der möglicherweise auch ein Zweifelnder ist; wie er sogar im Viertel einen Verbündeten findet, der ihm wieder verlorengeht, weil Ati am Schluss in ganz und gar mehrdeutige Gesellschaft gerät – das alles wird mehr oder weniger nebenbei erzählt. Oder untendrunter. Es ist nämlich fast so, als wolle dieser Roman jede eigentliche Handlung unmöglich machen unter einem riesenhaften, statischen atmosphärischen Überbau, der, eben genau so wie in der geschilderten, der endgültigsten aller Welten, noch jedes Aufflackern von individuellem Schicksalsbedürfnis im Keim erstickt. Das zu lesen ist in etwa so, wie in schwarzem Nebel im Kreis zu wandern, ohne zu wissen, was das eigentliche Ziel hätte sein sollen.
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Die Hommage an George Orwells "1984", die Boualem Sansal im Titel seines Romans unterbringt und auch in kleineren Hinweisen im Text versteckt, bedeutet noch lange nicht, dass beide Bücher sich irgendwie ähnlich sind. Sie sind es allein in ihrer Ablehnung jeder totalitären Ideologie, unterscheiden sich in der Durchführung aber ganz grundsätzlich. Der große Unterschied liegt darin, dass Orwell letztlich doch an den Menschen und seine immer wieder aufflackernde Widerstandsfähigkeit glaubte. Sansal dagegen glaubt an nichts. An den Menschen schon mal gar nicht.
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Titelbild: V. Muller/Opale/Leemage/laif
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fluter/Dirk-Gieselmann-wie-ich-zu-dem-wurde-der-ich-bin.txt
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Sie hatte damals ein eigenes Bewertungssystem. Noten lehnte sie ab, stattdessen stand unter den Arbeiten "fein" oder "leider nicht so gut", geschrieben mit rotem Kugelschreiber. "In Ordnung" entsprach einer Drei.
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Eines Tages gab ich ihr ein Erinnerungsalbum, in das sich zuvor schon meine Mitschüler eingetragen hatten, die Kategorien lauteten "Lieblingsfarbe", "Lieblingsbuch" oder "Was ich einmal werden möchte". Ihre Antwort lautete: "Weise".
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Ganz unten gab es eine leere Sprechblase, über der "Was ich Dir immer schon mal sagen wollte" stand. Mit großer Spannung erwartete ich die Geständnisse der Mädchen aus meiner Klasse. Die Lehrerin indes schrieb mit ihrem roten Kugelschreiber hinein: "Du bist in Ordnung."
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"Guten Abend, hier spricht Dirk Gieselmann.""Bitte, wer?"
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"Ich war Ihr Schüler von 1989 bis 1991.""Wie war noch gleich Ihr Name?"
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"Gieselmann, Dirk. Klasse 5 a und 6 a.""Hm. Ja. Dirk. Kann sein. Warum rufen Sie mich an?"
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"Ich rufe Sie an, um zu fragen, warum Sie mir als Mensch eine Drei gegeben haben."
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Der zweite Anruf. Er bellt ins Telefon: "Ja?" Natürlich bellt er, er hat ja immer nur gebellt: der Dorfschläger. Der um einen Kopf größere und um einen Kopf dümmere Junge, der mich meines Lebens nicht mehr froh werden ließ.
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Einmal kam er auf einem winterlichen Stoppelfeld auf mich zu, aus einem guten Kilometer Entfernung, immer größer werdend, ein Bote des Unheils und das Unheil selbst, und als er schließlich vor mir stand, schlug er mir, wortlos grinsend, mit der Faust ins Gesicht. Das Blut troff in den Schnee, und er ging davon, wie ein Handwerker, der Feierabend hat.
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Ich war nicht vor ihm geflohen, weil ich es hinter mir haben wollte. Schlug er mich nicht heute, schlug er mich morgen. Seine Abreibungen waren so unausweichlich wie die Badewanne am Samstagabend.
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"Ja?""Hallo. Ich bin's, Dirk. Der Junge, den du früher verprügelt hast."
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"Ja, und?""Ich rufe an, um dich zu fragen, was die Scheiße sollte."
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Der dritte Anruf. "Sie sind verbunden mit der Mailbox von …" Den Namen sagt sie selbst, aber nicht mehr mit der Stimme, die mir noch immer im Ohr klingt, vom Vorlesen im Deutschunterricht. Ich schloss stets die Augen, wenn sie dran war, sie klang wie ein Engel: "Es war einmal …"
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Wir gingen ein paarmal Eis essen, im Sommer, als es bei Tomasella den Italia-90-Becher gab, einen Pokal mit sechs Kugeln, die wir uns teilten. Als er leer war, fragte ich sie, ob sie mit mir gehen wolle. Sie schaute mich an, ich schaute zu Boden, sie sagte: "Ich habe schon einen Freund, er sieht aus wie Hobie von ‚Baywatch' und wohnt in Wilhelmshaven. Wir haben uns im Urlaub kennengelernt."
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"Hallo, bist du es, Dirk?""Ja, vielen Dank für deinen Rückruf."
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"Mensch, das ist ja ewig her! Wo steckst du? Was machst du? Warum hast du angerufen?""Ich habe angerufen, um dich zu fragen, warum du mir das Herz gebrochen hast."
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Irgendwann in jenen Jahren, in denen diese drei Menschen auf den Plan traten, zwischen 1989 und 1991, zersprang mein Leben in zwei Hälften.
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Die eine, nennen wir sie mein Dasein, ist die, auf der ich jetzt stehe: ein sogenannter Mann von 38 Jahren, verheiratet, zweifacher Vater, dreifacher Patenonkel, Raucher, Gelegenheitsschwimmer, Journalist mit Sozialversicherungs- und Steuernummer, IBAN und BIC, leicht überdurchschnittlichem Jahreseinkommen, 571 Freunden bei Facebook und fünf im echten Leben, mit beginnendem Haarausfall, einem fehlenden Zahn und einem Hang zu herbstlicher Trübsal, verhinderter Langschläfer, Besitzer einer erklecklichen Sammlung melancholischer Schallplatten und eines 18 Jahre alten Autos, Trauergast auf bislang elf Beerdigungen, darunter die eines Schulfreundes, leicht kurzsichtig, aber zu eitel für eine Brille, ein kleines schwarzes Herz auf dem linken Handgelenk, tätowiert in einer Phase des Liebeskummers vor nunmehr elf Jahren.
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Kurz: Ich bin ein leidlich funktionierender, von Zumutungen mehrfach vernarbter Erwachsener, einer von vielen. Von sehr vielen.
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Die andere Hälfte, nennen wir sie Kindheit, treibt unaufhörlich fort von mir wie der durch tektonische Kräfte abgebrochene Teil eines einstmals ganzen Kontinents. Erst war da ein Riss, der zum Rinnsal wurde, dann zum Fluss und schließlich zum unüberwindlichen Ozean. Ich kann meine Kindheit nicht mehr sehen, nur noch vermuten, was dort vor sich geht, auf diesem anderen, fernen Kontinent. Ich spähe in den Nebel, dorthin, wo das verlorene Land ja schließlich irgendwo liegen muss.
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Lebt mein geliebter Hund noch? Spiele ich mit meiner Eisenbahn? Freue ich mich auf Weihnachten? Weine ich, wenn der SV Werder verliert? Verstecke ich mich hinter dem Sofa, wenn Ajatollah Chomeini in der "Tagesschau" gezeigt wird? Werde ich von meinen Eltern getröstet, wenn ich Angst habe? Sitze ich im Baumhaus und lese Indianercomics? Träume ich davon, ein berühmter Sportler zu werden? Bin ich immer noch so gleichbleibend glücklich und freue mich auf jeden neuen Tag? Glaube ich noch, dass ich der Mittelpunkt der Welt bin?
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Schwer zu entziffernde Botschaften, die Antworten auf meine Fragen sein könnten oder auch nicht, dringen zu mir herüber, wie Schildkröten, die den Atlantik überqueren, um auf der anderen Seite ihre Eier am Strand abzulegen. Nennen wir es Erinnerung.
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Es gibt auch Artefakte, in denen ich lesen kann, sie stehen in der Schrankwand meiner Eltern, im Fach hinten links, unter dem guten Kaffeeservice, aus dem zuletzt bei meiner Konfirmation getrunken wurde. Man muss das Sofa zurückschieben, um die Tür öffnen zu können: Dort stehen die Fotoalben. Darin bin ich noch das Kind, das Dirki heißt. Der Mittelpunkt der Welt.
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Auf jedem Foto bin ich der Hauptdarsteller: Ich sitze feist am Geburtstagstisch, vor mir ein Teller Waffeln mit Puderzucker, ich fliege im Kettenkarussell vorüber, unscharf und fidel, stehe mit Eimerchen und Schippe am Strand von Norderney, Bauherr einer erbärmlichen Sandburg. Der Stolz meiner Eltern steht als Gestaltungswille hinter diesen Bildern: Unser Sohn! Ist er nicht einzigartig?
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Ich war frei von Zweifeln und Kummer, es gab keine Brüche, alles war Gegenwart. Der Gedanke, dass mich jemand nicht mögen könnte, war mir fremd. Ich war ein Ganzes, eins mit mir selbst. Dumm genug, um glücklich zu sein.
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Dann bekam ich zum ersten Mal auf die Fresse.
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Ich glaube, es war an der Bushaltestelle, an einem Herbstmorgen, als der Dorfschläger befand, ich sei nun alt genug, um zu erfahren, dass mich nicht alle Menschen liebten, vor allem er nicht. Ich saß hinterher schluchzend auf der Rückbank, das Mädchen von der weiterführenden Schule reichte mir krankenschwesterlich ein Taschentuch.
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"Äh, hahaha", sagt der Dorfschläger. "Das ist lange her.""Ich kann mich ganz gut erinnern", sage ich. Das Herz pocht mir bis zum Hals. Uns trennen 500 Kilometer, aber ich habe immer noch Angst, dass er mir eine reinhaut.
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"Also, ja", sagt er. "Was soll ich sagen? Mir war wohl langweilig."
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"Deswegen hast du mich verprügelt?""Denke ich mal."
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Es waren ganz sicher nicht nur seine Prügel, die Benotung durch meine Klassenlehrerin als mittelmäßiger Mensch und die Abfuhr in der Eisdiele, die das Ende meiner Kindheit bedeuteten: die bittere Erkenntnis, verletzlich zu sein, die ungemütliche Ahnung, dass die Welt zu groß ist, um ihr Mittelpunkt zu sein, und zu feindlich. Aber sie stehen symbolhaft für diese Zäsur, finstere Metaphern meiner Biografie. Als wären sie die ersten Buhrufe für einen Kinderstar gewesen, der bislang nur "Mama" hatte singen müssen, um alle zu verzücken. Ein Schock, eine narzisstische Kränkung.
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"Ich habe Ihnen als Mensch eine Drei gegeben?", sagt die Lehrerin, als hörte sie zum ersten Mal von einem himmelschreienden Skandal. "Das kann ich ja kaum glauben.""Doch, doch. Sie haben es mir sogar ins Album geschrieben", sage ich. "Es liegt hier vor mir. Du bist in Ordnung, steht da. Das war doch Ihre Drei."
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"Ja, das stimmt schon. Aber …""Warum habe ich keine Zwei bekommen? Was hat gefehlt?"
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"Das habe ich da wohl einfach so hingeschrieben, ohne groß nachzudenken."
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Als ich mit sieben Jahren bei einem Schwimmwettkampf im Freibad meiner Heimatstadt die Goldmedaille über 50 Meter Kraul gewann, fühlte ich mich wie der einzige Olympiasieger der Geschichte. Unerheblich, dass ich in meiner Altersklasse der einzige Teilnehmer gewesen war. Heute kann ich berufliche Erfolge erzielen, Lob einheimsen, Preise verliehen bekommen: Ich halte mich dennoch für nur einen von sieben Milliarden Menschen, dessen Tun nicht wesentlich wichtiger ist als das einer Waldameise. Mitunter denke ich sogar, meine Frau hat mich nur geheiratet, weil der Junge aus Wilhelmshaven, der aussieht wie Hobie aus ‚Baywatch', nicht mehr zu haben war.
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"Ich habe dir das Herz gebrochen?", fragt das Mädchen aus der Eisdiele. "Das ist ja niedlich.""Finde ich eigentlich nicht", sage ich. "Um ehrlich zu sein."
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"Entschuldigung. Wie lange warst du denn traurig?""Lange. Sehr lange."
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"Also, das ist schon ein bisschen gespenstisch jetzt.""Ich bin verheiratet."
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"Aha. Glückwunsch. Du, ich hab nicht viel Zeit, ich muss …""Nur eine Frage noch."
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"Ja, bitte.""Was war an Hobie toller als an mir? An dem Typen aus Wilhelmshaven."
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"Hahaha.""Was war toller an ihm?"
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"Er hatte ein Skateboard."
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Ein Brett mit Rollen, Langeweile und die Unachtsamkeit des Einfach-so-Hinschreibens: Das waren also die drei Auslöser für meine Vertreibung aus dem Kinderparadies. Ich hätte es gern ein bisschen weniger profan gehabt. Aber wie so vieles kann man sich auch das nicht aussuchen.
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Von dort aus wurden die Kränkungen fortgeschrieben, von Frauen und Männern, denen ich aus verschiedenen Gründen gern gefallen hätte, von Schwiegermüttern und -vätern, von Auftraggebern, Leserbriefschreibern, von Smalltalkpartnern und Tischnachbarn, Freunden von Freunden, die mich auf Partys stehen ließen, um sich dem Nächstinteressanteren zuzuwenden. Und ich blickte stumm in meine Sektflöte, weit außerhalb des Mittelpunkts der Welt.
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Dirk Gieselmann reiste in den vergangenen Monaten durch Deutschland, um die Menschen nach ihren Ängsten zu befragen. Er ist außerdem ehemaliger Vorstopper des TuS Sankt Hülfe-Heede
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fluter/Dokumentarfilm-das-Gelaende-Zentrale-des-Naziterrors.txt
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Das Gelände an der heutigen Niederkirchnerstraße ist einer dieser Orte, an dem sich die Gräuel der Nazis verdichteten. Ein deutscher Erinnerungsort. Jahrelang kämpfen Historiker und Bürgerinitiativen darum, dessen Geschichte sichtbar zu machen. Doch sie scheitern immer wieder – mal an politischen Differenzen, mal an bürokratischen Hürden.
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Ende der 80er-Jahre bringen Ausgrabungen die Kellerwände der NS-Gebäude zum Vorschein. Der Kameramann Martin Gressmann wird aufmerksam auf den Ort und beginnt, ihn zu filmen.
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Seine Oma hatte ihm erzählt, dass es in der Nazizeit "in Berlin eine bestimmte Straße gegeben hätte, durch die man einfach nicht durchging." Das sind Gressmanns Worte aus dem Off am Beginn seines Films "Das Gelände".
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Als Gressmann anfing mit dem Filmen, dachte er, die Brache würde bald mit Häusern bebaut, und plante einen Kurzfilm. Aber sie wurde nicht bebaut. Im Laufe der Jahre kommt Gressmann immer wieder zum Gelände und hält die Kamera drauf. Beobachtet Stapel aus alten Autoreifen. Halb herunterhängende Plakate. Wie Gräser im Wind schaukeln. Archäologen in einen Betontunnel steigen. Einen Mann, der nach der Grenzöffnung durch ein Loch in der Mauer schaut und schimpft. Bauarbeiter Sand schaufeln. Kinder Schlitten fahren. Die Kamera erkundet auch die Gegend um das Gelände. Vor dem Berliner Abgeordnetenhaus spielt eine Bundeswehr-Kapelle Blasmusik zur Verabschiedung der Alliierten. Am ehemaligen Reichsluftfahrtministerium wird ein Film gedreht. Die Jahre vergehen, der Dokumentarfilm ist gegliedert durch Zwischentafeln, auf denen Jahreszahlen stehen, 1985, 1989, 1999, 2006 …
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Im Off hören wir Personen, die etwas zum Gelände erzählen. Ein Historiker schildert, dass die Gestapo gar nicht so "geheim" vorging. Eine Biologin beschreibt, welche Pflanzen auf der Brache wachsen. Der gescheiterte erste Architektur-Entwurf für ein Ausstellungsgebäude kommt auch zur Sprache. Und so weiter. Ein Puzzle aus Informationsfragmenten breitet sich aus, zusammen mit den Bildern. Die Personen der Off-Töne bleiben unsichtbar, ihre Namen werden erst im Abspann genannt.
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Gressmann beobachtet. Und wir beobachten mit ihm. Das ist das Schöne an diesem stillen Film. Er lässt uns in eineinhalb Stunden eine Reise machen, bei der wir mit den Augen am selben Ort bleiben, aber durch die Jahre wandern. Von 1985 bis 2013. Es ist ein Ort deutscher Geschichte, doch es geht darum, was hier Jahrzehnte später passiert. Oder nicht passiert. Und wie auch das Geschichte wird.
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Der Film schenkt Atmosphäre und Blicke. Aber wenig Information. Die muss man selbst mitbringen oder sich nach dem Film holen. Wer mit wenig Vorwissen in diesen Film geht, wird mit noch mehr Fragezeichen hinausgehen. Das ist nur dann frustrierend, wenn man eine traditionelle Doku erwartet, mit Interviewpartnern, die in die Kamera schauen, mit Archivaufnahmen, Erklärungen und Einordnungen.
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Gressmann hat hingegen einen radikal kontemplativen Film gemacht. Da hätte er auch auf den Tonspur-Schmuck verzichten können, der an einigen Stellen erklingt, zum Beispiel ein Straßenbahnbimmeln, wenn aus dem Off von der Tram berichtet wird, die früher dort vorbeifuhr. In die Reduziertheit des Films passen aber die Zwischentafeln mit Hinweisen, die manchmal auftauchen wie in Stummfilmen. Gegen Ende steht auf so einer Tafel: "Am 6. Mai 2010 wird das Dokumentationszentrum ‚Topographie des Terrors' eingeweiht." Es folgen die letzten Bilder, die Gressmann gefilmt hat. Das Gelände hat sich gefunden.
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"Das Gelände", Regie und Buch Martin Gressmann, Deutschland 2014,www.das-gelaende.de
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Vybz Kartel, der ja schon eine Menge erreicht hat, geht denn auch gleich noch den nächsten Schritt. Er hat nicht nur für sich selbst das Aufhellen der Haut mit Hilfe von Chemikalien entdeckt, er hat auch eine eigene Reihe von Kosmetikprodukten auf den Markt gebracht, für die er nun selbst als Testimonial wirbt. Zwar gibt es auch Gegenstimmen aus der Dancehall-Szene, etwa von Künstlern wie Mavado und Sizzla Kalonji,die das Bleaching verurteilen. Und sogar Vybz Kartel selbst zeigte sich für die Länge eines Songs mit dem Titel "School" reumütig undwarnte zumindest Schulkinder, seinem Bleaching-Vorbild zu folgen. Aber insgesamt gibt Dancehall mittlerweile nicht nur den Ton, sondern auch das Toning an.
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Was in Teilen Afrikas als "Skin Toning", "Skin Whitening" oder "auch Skin Bleaching" bekannt ist, wird in Jamaika meist "browning" genannt. Die Produkte tragen Namen wie "Piona", "Ambi", "Nadinola", "Betnovate", "Dermovate", "Movate", "Maxi white", "Fair" und einfach "White". Und nicht wenige Jamaikaner mögen sich gar nicht für eines der Produkte entscheiden. Sie kaufen gleich mehrere davon und rühren sie zu Hause in Mischverhältnissen zusammen, die als Geheimtipps gehandelt werden: Ein bisschen davon, ein bisschen hiervon und dann noch ein bisschen Zahnpasta dazu –und es wirkt gleich noch mehr.
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Besonders verbreitet ist das Skin Bleaching unter jungen Jamaikanern in den größeren Städten. Mit einer helleren Haut, so die weit verbreitete Überzeugung, würden sich ihnen ganz neue Chancen im Berufs- und auch im Liebesleben eröffnen. Da könnten sie, wie es scheint, durchaus recht haben. Betrachtet man die Elite des Landes in Kultur, Wirtschaft, Politik und Sport, so zeichnet die sich fast durchweg durch eine etwas hellere Haut aus. Menschen mit dunkler Haut hingegen leben in Jamaika oft in der ständigen Erwartung von Zurückweisung und ahnen, sowieso nie dort oben an die Spitze der Gesellschaft hinzukommen. Sie erleben es immer wieder, dass ihre Fähigkeiten und Leistungen allein wegen ihrer Hautfarbe nicht gewürdigt werden. Also suchen sie ihr Heil in chemischen Mitteln, mit denen sie ihre Haut aufhellen.
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Sozialer Status, Klasse und Hautfarbe sind in Jamaika, wie in vielen anderen Ländern, eng miteinander verflochten. Die Hautfarbe kann für die soziale Mobilität ein Beschleuniger oder eine Bremse sein – je nach Helligkeit eben. Der jamaikanische Sprint-Weltmeister Usain Bolt redete jüngst ganz offen darüber, wie die Hautfarbe sein Leben in Jamaika beeinflusst: "Ich lebte mal in einem Wohnkomplex, wo ich einige Schwierigkeiten mit Nachbarn hatte, die eine hellere Haut haben. Mein Nachbar war Rechtsanwalt und warnte mich: Sei vorsichtig, hier werden junge, strebsame Leute nicht gerne gesehen." Auch Portia Simpson Miller, die frühere Premierministerin von Jamaika, führt einen großen Teil der an ihr geübten Kritik auf ihre Hautfarbe zurück. Auch wer es weit gebracht hat in Jamaika, fühlt sich dennoch oft als Opfer des in der jamaikanischen Gesellschaft weit verbreiteten "Kolorismus".
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Viele der Bleichmittel, die oft harmlos wie einfache Gesichtscremes daherkommen, sind in Wirklichkeit ungesund, weil sie schädliche Stoffe wie Hydrochinon und Quecksilber enthalten, die Hautirritationen, Hautausschläge und eine verstärkte Pigmentierung auslösen und schlimmstenfalls sogar krebserregend sein können. Mediziner und Politiker warnen eindringlich vor den Gefahren des Skin Bleachings und setzen sich dafür ein, diese Praxis zu stoppen. Die jamaikanische Regierung sah sich 2007 gar zu einer Aufklärungskampagne mit dem Titel "Don't Kill the Skin" herausgefordert – mit bescheidenem Erfolg: Untersuchungen zeigen, dass das allgemeine Aufhellen ungebrochen weitergeht.
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Hinter dem Geschäft mit den Hautaufhellern steckt eine Milliardenindustrie. Bis zum Jahr 2020 soll der Markt laut Schätzungen von Global Industry Analysts weltweit 23 Milliarden US-Dollar schwer sein. Die Firma Unilever zählt mit ihren Marken Vaseline und Dove zu den wichtigsten Akteuren dieser Industrie. Die Aufhellungscreme "Fair and Lovely" von Unilever etwa ist in Indien ein Verkaufsschlager. Die meisten Konsumenten dieser Produkte leben in Asien, Afrika und der Karibik. In Nordamerika und Europa sind solche Produkte wegen ihrer Inhaltsstoffe meist verboten oder werden nur unter massiven Einschränkungen zugelassen. Aber angesichts einer schwach ausgeprägten gesetzlichen Regulierung in vielen Entwicklungsländern haben die Firmen es dort oft viel leichter, Absatzmärkte zu finden.
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An diesem Geschäft möchte auch Dancehall-Star Vybz Kartel mitverdienen. Er weiß eben sehr genau, wie man in Jamaika zu etwas kommt.
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Agomo Atambire ist 27 Jahre alt und kommt aus Ghana, wo er in der Hauptstadt Accra Biotechnologie studiert hat. Im Sommer hat er ein sechswöchiges Praktikum in der Redaktion von fluter.de absolviert und währenddessenüber seine Erfahrungen in Deutschland Tagebuch geführt. Nun ist er zurück in Accra und will seinen Master machen.
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Illustration: Héctor Jiménez
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fluter/Experteninterview-Proteste-Korruption-Rumaenien.txt
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Die Menschen lassen nicht mehr alles mit sich machen. Sie wehren sich gegen den Versuch, beim Kampf gegen die Korruption das Rad zurückzudrehen. Dieses Thema ist seit 1989, dem Ende der Ceauşescu-Ära, prägend für die rumänische Politik.
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Die Regierung wollte manche Korruptionsvergehen weniger hart bestrafen. Außerdem sollten viele der Korruption oder des Amtsmissbrauchs überführte Politiker vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen werden.
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Ja. Und auch wenn die Regierung unter dem Druck der Straße nachgegeben und die umstrittene Eilverordnung zurückgezogen hat, bleibt das Misstrauen der Menschen groß. Sie befürchten, dass die Regierungsseite auf Umwegen und mit ein paar kosmetischen Veränderungen doch einige ihrer ursprünglich geplanten Maßnahmen durchsetzen wird, wenn sie jetzt nachlassen. Deshalb gehen die Proteste weiter, obwohl die Demonstranten ihr Ziel scheinbar schon erreicht haben.
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Haben die Demonstranten noch weitere konkret formulierte Ziele?
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Viele wollen personelle Veränderungen oder sogar den Rücktritt der Regierung erreichen. Aber die aktuelle Regierungskoalition aus sogenannten Sozialdemokraten und Liberalen ist durch einen überzeugenden Wahlsieg im Dezember 2016 legitimiert und verfügt über eine satte Mehrheit im Parlament. Ein Misstrauensvotum der Opposition hat sie denn auch problemlos überstanden. Deshalb wird sie nicht so schnell aufgeben und es bei "Bauernopfern" belassen – der für die Verordnung verantwortliche Justizminister ist daher zurückgetreten. Darüber hinaus wurde in der Protestbewegung der Ruf nach weitergehenden Schritten und neuen Gesetzen gegen Korruption und Amtsmissbrauch laut.
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Seit 1989 ist der Kampf gegen Korruption prägend für die rumänische Politik. Jetzt wehren sich viele Menschen gegen den Versuch, das Rad zurückzudrehen.
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Die Sozialdemokraten haben die Parlamentswahl vor zwei Monaten mit gut 45 Prozent der Stimmen gewonnen. Nun sehen sie sich Massenprotesten gegenüber. Wie passt das zusammen?
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Es gibt praktisch zwei Rumänien. Die urbane Bevölkerung, welche jetzt demonstriert, viele Jüngere und die neuen Mittelschichten, wollen Ehrlichkeit und Transparenz. Diese Bevölkerungsgruppe war auch die treibende Kraft hinter den erfolgreichen Demonstrationen gegen den ehemaligen Ministerpräsidenten Victor Ponta. Der musste 2015 zurücktreten, nachdem in einem Bukarester Nachtclub über 60 Menschen bei einem Brand gestorben waren, wohl auch, weil Auflagen nicht eingehalten wurden. Für die Städter war es der eine Fall von Korruption zu viel.
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Und wer steht auf der anderen Seite?
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Das andere Rumänien, das sind große Teile der ländlichen Bevölkerung sowie viele Beschäftigte des öffentlichen Dienstes, Menschen aus kleinen Städten und Gemeinden, aus dem Osten und Süden des Landes. Auch die sehen, wie korrupt ihre Regierung und viele Politiker sind, nur hat für sie dieses Thema nicht die gleiche Priorität wie etwa ökonomische und soziale Themen. Und die Sozialdemokraten tun ja auch etwas für ihre Klientel, sie haben beispielsweise den Mindestlohn erhöht.
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Welche Rolle spielt der rumänische Staatspräsident Klaus Johannis?
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Wie in Deutschland hat der Präsident in Rumänien mehr repräsentative Aufgaben. Er ist aber schon so eine Art Gewissen der Nation. Johannis hat stets für einen ehrlichen Politikstil geworben, er wirft seine Persönlichkeit in die Waagschale und versucht sich als ein Kopf der Bewegung zu positionieren. Es ist aber insgesamt so, dass die aktuellen Proteste weitgehend aus dem Volk heraus, also von unten, entstanden sind. Jenseits von Johannis spielen Politiker, etwa der Oppositionsparteien, kaum eine Rolle. Das hat auch damit zu tun, dass sich die Kritik der Demonstranten in gewisser Weise auch gegen die etablierten Parteien der Opposition richtet, deren Vertreter keineswegs allesamt sauber und transparent sind.
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Es ist vor allem die urbane Bevölkerung, ...
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... die jetzt mit viel Wut im Bauch für Ehrlichkeit und Transparenz kämpft
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Was halten Sie von dem Vorurteil, dass so gut wie alle Staaten Osteuropas größere Probleme mit Korruption haben?
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In der Tat ist Korruption und im weiteren Sinne "schlechte Regierungsführung" ein chronisches Problem, mit dem im Grunde alle Länder zu kämpfen haben, die den Kommunismus hinter sich gelassen haben. Es gibt allerdings immense Unterschiede. So hat zum Beispiel Estland große Fortschritte erzielt, und auch in Mitteleuropa haben sich Dinge zum Positiven entwickelt. Demgegenüber sieht es in Südosteuropa und erst recht in den Nicht-EU-Staaten in Osteuropa noch recht düster aus. Dennoch ist auch in Rumänien einiges passiert. Vor allem durch den Beitrittsprozess zur EU, der ja 2007 zur Mitgliedschaft des Landes in der EU führte. Es gibt eine Nationale Antikorruptionsbehörde, die wirklich effektive Arbeit verrichtet. Selbst ehemalige Spitzenpolitiker sitzen hinter Gittern. Auch dafür, dass eben all diese Errungenschaften nicht wieder abgewickelt werden, protestieren die Menschen. Gleichwohl besteht trotz aller Fortschritte weiterhin eine Art klientelistisch-korrupter Komplex, der seine Interessen hartnäckig verteidigt.
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Warum hat Rumänien dieses Korruptionsproblem?
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Oh, auf diese Frage hat wohl niemand wirklich eine umfassende Antwort. Ich kann nur einige Aspekte aufwerfen, die relevant sein könnten. Zunächst hat es beim Übergang zwischen Kommunismus und Demokratie eine sehr hohe personelle Kontinuität gegeben. Vertreter der kommunistischen Eliten und des Sicherheitsapparates haben ihre Positionen auch unter neuen Vorzeichen halten können. Außerdem konnten sich Oligarchen etablieren, die weite Teile der Medienlandschaft unter ihre Kontrolle gebracht haben. Bei gleichzeitig kaum entwickelter Zivilgesellschaft konnten sich so Klientelstrukturen etablieren, die sich in Staat und Wirtschaft festgesetzt haben und die nur sehr schwer aufzubrechen sind.
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Nationalistische Töne aus Ungarn und Polen, gleichzeitig Proteste in Polen und Rumänien. Kann man sagen, dass in Osteuropa vieles ins Wanken zu geraten scheint?
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Die Situation in den genannten Ländern ist aber kaum vergleichbar. In Polen und Ungarn haben die Regierungen konservativ-patriotische Agenden. Sie streben große Veränderungen an. In Rumänien – wie auch in Bulgarien – spielen ideologische Aspekte kaum eine Rolle. Dort wollen die Regierungen eben gerade keine Reformen, sondern die Aufrechterhaltung undurchsichtiger Strukturen. Dort geht es also nicht um Ideologie, sondern schlichtweg um Bereicherung.
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Titelbild: Vadim Ghirda/picture alliance/AP Photo
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fluter/Facebook-Fakenews-Journalismusprojekt.txt
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Da sich Facebook nun seit geraumer Zeit mit Forderungen konfrontiert sieht, endlich etwas gegen solche kalkuliert in die Welt gesetzten Falschmeldungen zu unternehmen, kommt das "Journalismus-Projekt" nicht ganz überraschend. Konkret soll es darum gehen, gemeinsam mit Medienpartnern nach neuen Wegen zu suchen, wie redaktionelle Inhalte auf Facebook präsentiert werden können. Außerdem sollen sowohl Journalisten als auch die Nutzer des Netzwerks fortgebildet werden, damit sie "fundierte Entscheidungen über die Vertrauenswürdigkeit von Nachrichten treffen können", wie es in der Ankündigung heißt. Dazu soll es Onlinekurse geben. Zumindest die Förderung der Medienkompetenz normaler Nutzer dürfte ein kompliziertes Unterfangen werden. Fast 1,8 Milliarden Menschen weltweit nutzen Facebook pro Monat aktiv.
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Als einer der ersten Partner steht das unabhängige Recherchebüro Correctiv fest.Wie dessen Leiter David Schraven mitteilte, werde in den nächsten Wochen getestet, wie die Zusammenarbeit konkret aussehen wird. Nutzer sollen die Möglichkeit bekommen, Beiträge als "Fake News" zu markieren. Ab einer nicht genannten Verbreitungsschwelle sollen sich dann die Journalisten vom Correctiv mit der Prüfung befassen; von ihnen als falsch beurteilte Inhalte sollen danach mit einem Warnhinweis angezeigt werden. Correctiv soll während der Testphase kein Geld für diese Arbeit erhalten.
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Experten bekräftigen schon sehr lange, dass Facebook von vielen Menschen als Nachrichtenseite benutzt wird und der Plattform damit eine Verantwortung zukommt, der sie sich stellen muss. Claire Wardle von der Forschungseinrichtung "Tow Center for Digital Journalism" analysiert etwa: "Facebook ist ins Nachrichtenbusiness hineingestolpert, ohne System oder redaktionelle Richtlinien. Nun gibt es den Versuch einer Kurskorrektur." Allerdings lässt sich zu diesem frühen Zeitpunkt kaum sagen, ob der Kampf gegen "Fake News" auf diese Weise gelingen kann. Auch wäre es noch zu früh zu sagen, ob das Projekt dazu dienen wird, vor allem die eigene Position auf dem Nachrichtenmarkt zu stärken und neue Vertriebswege zu erschließen.
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Aus den Medienhäusern selbst kommt einige Zustimmung. Die "Washington Post" zitiert auf ihrer Website ihren Informationschef Shailesh Prakash mit der Einschätzung, dass er sich aus der Verbindung der journalistischen Expertise der Medienhäuser und der technischen Expertise von Facebook viel Gutes erhoffe. Die Zeitung zählt ebenfalls zu den bereits bekanntgegebenen Partnern der Facebook-Initiative.
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Auch wenn die Details noch unklar sind, scheint Facebook mit dem Projekt seine Rolle als Nachrichtenseite anzunehmen – eine Rolle, gegen die sich das Netzwerk und sein Chef Mark Zuckerberg lange gesträubt haben.
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In der ersten Version dieses Artikels war zu lesen, Correctiv werde dem Vernehmen nach von Facebook kein Geld für seine Arbeit erhalten. Diese Aussage ist nicht richtig. Wie Correctiv mitteilte, habe man bislang bloß keine Vorstellung vom Arbeitsaufwand und könne somit die Kosten noch nicht beziffern.
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fluter/Film-Foxtrot-Samuel-Maoz.txt
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Im ersten Akt wird zum ersten Mal sprichwörtlich "Foxtrott getanzt". Während Dafna nach einem Zusammenbruch sediert wird, bedrängen die Vertreter/-innen des israelischen Militärs ihren Mann mit entmündigender Fürsorge – "ein Glas Wasser hilft über den ersten Schock", heißt es gut gemeint. Im Verlauf der Sequenz wird die tragische Grundsituation immer wieder durch satirische Momente irritiert. Michaels Bruder schlägt etwa vor, bei der Traueranzeige den Ausdruck "gepflückt" statt "gefallen" zu verwenden. Auch der Militärrabbiner scheint eher einem vorgeschriebenen Protokoll zu folgen statt sich seelsorgerisch um den Trauernden zu kümmern. Die Bürokratisierung der Trauer – eine Tragikomödie.
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In die bleierne Atmosphäre platzt unvorbereitet eine zweite Nachricht. Bei dem toten Soldaten soll es sich um einen anderen Jonathan Feldmann handeln. Dafnas und Michaels Sohn hingegen sei am Leben. Auf den ersten Blick geht also alles auf die Anfangsposition zurück. Und doch lässt sich der "Fehler im System" nicht ungeschehen machen. Michaels angestaute Wut bricht nun aus ihm heraus – und er trifft eine Entscheidung, die das Schicksal der Familie erneut auf tragische Weise ändern soll.
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Ein abgelegener Checkpoint, der von vier israelischen Soldaten, darunter auch Jonathan Feldmann, bewacht wird, ist das Setting des zweiten Aktes. Der von Ereignislosigkeit bestimmte Alltag hat etwas Surreales, der geringe Grenzverkehr wird hauptsächlich von Dromedaren bestritten. Aus der Lethargie heraus beginnt ein Soldat mit seinem Maschinengewehr einen Foxtrott zu tanzen, der sich in Begleitung von Pérez Prados schmissigen "Que Rico Mambo" zu einer entfesselten Tanzeinlage steigert. Maoz' Kritik am Militär zeigt sich in der Inszenierung der Waffe als erotisch aufgeladene "Tanzpartnerin" – oder in der Frage, ob der Einsatz der jungen Soldaten in der Einöde einen Sinn hat.
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Nach dem visuell eher klinisch-kühlen Auftakt mit seinen wiederholten Vogelperspektiven, die Michael wie in einer Laborsituation beobachten, bestimmen Sepiafarben und diffuse Lichtstimmungen das Bild. Maoz verleiht dem gesamten Mittelteil etwas Wirklichkeitsentrücktes, die Zeit erscheint mitunter wie gedehnt, Wahrnehmungsdetails treten überscharf hervor und wirken fast abstrakt. "Alles, was du siehst, ist eine Illusion", sagt einer der Soldaten – eine These, die durch den plötzlichen Einbruch der Realität schmerzhaft widerlegt wird. Das Kriegsdrama verdrängt die Traumszenerie, als eine angebliche Gefahrenlage fehlgedeutet wird und dadurch eine Gruppe junger Araber/-innen stirbt, die den Checkpoint in einem Auto passieren wollte. Von "oben" wird Stillschweigen geboten, der Wagen wird samt der getöteten Insassen in einer nächtlichen Militäraktion vergraben.
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Zum Bild für die Unübersichtlichkeit der Lage wird der zunehmend im Schlamm versinkende Container, der als provisorisches Schlaflager für die Soldaten am Checkpoint dient. Er ist auch ein Raum zum Teilen von Geschichten: etwa die einer Thora, die mit Jonathans Großmutter die Shoah überlebte und vom Vater gegen ein Pin-Up-Heft eingetauscht wurde, das dieser wiederum an seinen Sohn weitergab. Die kollektive Erfahrung des Militärdiensts zeigt sich hier als ein "Erbe" vor allem zwischen Vätern und Söhnen. In einer Animationssequenz imaginiert Jonathan seinen Vater gar als einen von Scham- und Unzulänglichkeitsgefühlen geplagten Antihelden.
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Und noch einmal wechselt "Foxtrot" den Takt. Maoz entwirft den Schlussteil als ein klassisches Drama um Schuld und Verantwortung. Zeit ist vergangen, doch zugleich werden die im ersten Akt abrupt abgebrochenen Handlungsfäden wieder aufgenommen: Jonathan ist tot, verunglückt auf der Heimfahrt von seinem Einsatz, die Vater Michael im ersten Teil des Films vehement eingefordert hatte – der Systemfehler bekommt nun rückblickend fast etwas Utopisches. An Jonathans Geburtstag treffen Michael und Dafna, deren Ehe längst zerrüttet ist, in der Wohnung aufeinander. Bei einer konfrontativen Aussprache erzählt Michael von einem traumatischen Erlebnis während seiner eigenen Militärzeit. Am Ende einer aufwühlenden Nacht tanzen die Verletzten gemeinsam einen Foxtrott. Dieses Mal ist es ein Trauertanz – mit läuternder Wirkung.
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Dieser Text erschien zuerst auf kinofenster.de, dem Onlineportal für Filmbildung der bpb.Dort erfährst Du noch viel mehr zu "Foxtrott". Etwa über die Rolle von Krieg und Militär im israelischen Film, warum Regisseur Saumel Maoz sein Land für traumatisiert hält sowie Zahlen, Daten und Fakten über die israelischen Verteidigungsstreitkräfte.
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fluter/Filme-zum-Thema-Flucht-Haunted-und-Les-Sauteurs.txt
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Der Dokumentarfilm "Les Sauteurs" unterscheidet sich jedoch in einem entscheidenden Punkt von den Nachrichtenbildern und Fernsehreportagen. Denn Moritz Siebert und Estephan Wagner sind nur nominell die Macher des Films. Die Regie haben sie an Abou Bakar Sidibé abgegeben, damit das, was in Europa pauschal "Flüchtlingskrise" genannt wird, endlich auch aus der Perspektive der Betroffenen erzählt wird, also von jenen, die in westlichen Medien meist nur als anonyme "Masse" oder "tote Afrikaner" Erwähnung finden.
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"Les Sauteurs" umgeht mit diesem so einfachen wie politisch korrekten Trick dem Problem der Repräsentation: der Frage, wer hier eigentlich für wen spricht. Siebert und Wagner haben Abou eine Kamera und etwas Ausrüstung in die Hand gedrückt. Die Kamera erfüllt dabei zweierlei Funktion: Sie hilft Abou, der sein ganzes Leben in Mali zurückgelassen hat, auf seiner Identitätssuche in dieser für ihn neuen Umgebung. Und sie dokumentiert auf empathische und verblüffende Weise den Alltag im Flüchtlingscamp.
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Hier sind die Hierarchien flach, die verschiedenen Nationalitäten bilden Räte, welche wiederum einen "Präsidenten" wählen, der die Ordnung im Camp herstellt und die Fluchtstrategie bestimmt. Die disziplinierte Selbstorganisation mit einem strengen Regelwerk (Verräter werden zum Tode verurteilt) widersetzt sich allen medialen Darstellungen der chaotischen Zustände in Flüchtlingslagern. Im Gegenteil liefert "Les Sauteurs" ein differenziertes Bild vom Gemeinschaftsgefühl unter den Geflüchteten.
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Abou filmt seine Freunde bei Gesprächen über ihre Zukunftspläne und über die illegalen Methoden des marokkanischen Polizeichefs, er zeigt die Verwüstungen nach den regelmäßigen Polizeirazzien im Lager und ist bei einigen – vergeblichen – Versuchen, den Zaun zu überwinden, sogar mitten im Geschehen.
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Erstaunlicherweise erweist sich Abou im Laufe der Dreharbeiten als zunehmend kompetenter Filmemacher mit einem genauen Blick für die Widersprüche, die in den vereinfachten Darstellungen in den westlichen Medien nur selten zur Sprache kommen. Zum Beispiel, dass es für den Wunsch, nach Europa zu gehen, aus historischer Sicht durchaus plausible Argumente gibt. "Jahrzehntelang wurde mein Land ausgebeutet", sagt Abou einmal in die Kamera. "Sie können uns nicht alles nehmen und jetzt sagen, dass wir draußen zu bleiben haben."
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Gurugú ist ein Ort der Hoffnung und des Schmerzes. "Das Schlimmste hier ist, deine Brüder sterben zu sehen", meint einer der Männer. Einmal müssen sie die Eltern eines Kameraden anrufen, der die Flucht über den Grenzzaun nicht überlebt hat. Abou lässt die Kamera mitlaufen, eine heftige Szene, aber den Luxus der Pietät können sich diese Männer, die um ihre Existenz kämpfen, nicht leisten. "Les Sauteurs" ist ihr Film, und wie zum Beweis stellen Siebert und Wagner den Aufnahmen Abous zwischendurch immer wieder Schwarz-Weiß-Bilder aus den Wärmebildkameras der Grenzposten gegenüber. Sie zeigen die unbarmherzige Perspektive der Europäer, in der die Geflüchteten beim hilflosen Anrennen gegen das Bollwerk nur an das Gewimmel in einem Ameisenhaufen erinnern.
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Ebenfalls gegen weit verbreitete Vorstellungen über die gegenwärtigen Migrationsbewegungen geht der syrische Dokumentarfilm "Haunted" (Kinostart: 24. November) vor. Regisseurin Liwaa Yazji hat für ihren Film Opfer des Bürgerkriegs in Syrien in ihren zerstörten Häusern aufgesucht und dort mit ihnen über den Begriff "Heimat" und den Verlust ihres Eigentums gesprochen. Ihre Gesprächspartner/-innen stehen großenteils noch unter Schock, auch während der Dreharbeiten sind Einschüsse und Bombardements allgegenwärtig.
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Erschütternd sind die Bilder, in denen Yazji die Menschen durch ihre zerstörten Häuser begleitet, während diese von den Erinnerungen erzählen, die sie mit den Gegenständen aus den Ruinen verbinden. Deutlich wird dabei in allen Interviews, dass eigentlich keiner der Betroffenen Syrien verlassen möchte. Die Identifikation mit der eigenen Kultur, dem eigenen Besitz ist so groß, das einer der Befragten sogar zugibt, lieber sterben zu wollen, als sein Land zu verlassen.
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Indem "Haunted" sich auf konkrete Orte – die Häuser der Menschen auf der Flucht, ihren Lebensmittelpunkt – konzentriert, gelingt der Regisseurin die eindrucksvolle Studie einer "Flucht-Psychologie". Eine modische junge Frau berichtet, dass bei den Bombenangriffen alle Spiegel im Haus zerstört wurden. Sie könne sich nicht mehr selbst betrachten und hat dadurch den Bezug zu sich verloren. Damit liefert sie ein treffendes Bild für die traumatische Erfahrung des Krieges und der Flucht, die den Menschen ihre Identität, das Heim und die Heimat, nimmt.
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"Les Sauteurs" und "Haunted" ergänzen sich auch deshalb so gut, weil sie sehr unterschiedliche Vorstellungen von "Heimat" behandeln. Für Abou und seine Freunde hat der Begriff "Heimat" jede Bedeutung verloren; sie haben keinen Bezug mehr zu ihrem Herkunftsland. Der Status des Migranten ist ihnen zur zweiten Natur geworden. Für die Menschen, die Liwaa Yazji interviewt, ist der Verlust ihres Hauses hingegen gleichbedeutend mit einer Entwurzelung. Beide Filme zeigen, wie nötig es ist, im Westen ein Verständnis für die Sichtweisen von Geflüchteten zu entwickeln, um die tatsächlichen Ursachen und Folgen der heutigen (und zukünftiger) Flüchtlingsbewegungen besser zu verstehen.
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Les Sauteurs, Regie und Buch: Moritz Siebert, Esteban Wagner, Abou Bakar Sidibé, Dänemark 2016, 80 Min.
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Haunted,Regie und Buch Liwaa Yazji, Syrien 2014, 112 Min.
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Lebenslänglich, zweimal sogar, lautet das Urteil für den jungen Bankmanager Andy Dufresne (Tim Robbins), einen Doppelmord soll er verübt haben. Im Gefängnis muss Dufresne, eher der stille Typ, Schikanen und Willkür durch das Wachpersonal und Mitgefangene ertragen, gleichzeitig findet er Freunde und Aufgaben wie den Aufbau einer Gefängnisbibliothek. Der Handlungsbogen von "Die Verurteilten" – dessen Drehbuchvorlage übrigens eine Kurzgeschichte von Stephen King ist – umfasst Jahrzehnte, und immer geht es um eine Frage: Wie schafft man es, in einem entmenschlichenden Umfeld und ohne Perspektive auf Entlassung seine Menschlichkeit, seine Würde und auch seine Hoffnung zu bewahren?
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"The Shawshank Redemption", USA 1994, 142 Minuten
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Ist die Hinrichtung eine gerechte Strafe für ein Kapitalverbrechen, kann sie den Hinterbliebenen eines Mordopfers Genugtuung bieten? In den USA befürwortet eine knappe Mehrheit die Todesstrafe.Ungefähr 3.000 Häftlinge warten hier auf ihre Hinrichtung. "Dead Man Walking" schildert – semifiktiv, denn basierend auf zwei wahren Fällen – die letzten Monate des Todeskandidaten Matthew Poncelet (Sean Penn), der von der Nonne Helen Prejean (Susan Sarandon) seelsorgerisch begleitet wird und ein letztes Gnadengesuch erwirken will. Dabei ist Poncelet alles andere als ein Sympathieträger, und gerade das macht "Dead Man Walking" so differenziert bei Fragen nach Moral und Gerechtigkeit. Klare Antworten sollte man allerdings nicht erwarten.
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"Dead Man Walking", USA 1995, 122 Minuten
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Für ein Drogenvergehen in ihrer Jugend muss Piper Chapman (Taylor Schilling), eine prototypische weiße Mittelschichts-US-Amerikanerin, ein Jahr ins Frauengefängnis. Und erlebt dort stellvertretend für das Netflix-Mittelschichtspublikum all das, was man sich im Mikrokosmos Gefängnis eben so vorstellt: eine florierende Schattenwirtschaft, das knallhart durchgesetzte Recht der Stärkeren, Schutz durch Gruppenbildung, Liebschaften, sexistische Wärter. "Orange Is the New Black" mischt Sozialkritik mit Emotionen und viel Humor, ist so vielschichtig erzählt, dass es seit Jahren zu den beliebtesten Serien des Streamingdienstes Netflix gehört – und beweist ganz nebenbei, dass eine Serie natürlich auch sehr gut funktioniert, wenn fast alle Figuren weiblich sind und viele davon auch noch queer und/oder of color.
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"Orange Is the New Black", USA, seit 2013, bisher 78 Folgen in sechs Staffeln
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66 Tage. So lange dauerte der Hungerstreik von Bobby Sands. Am 5. Mai 1981 starb der Mann, der aus Sicht der britischen Regierung ein Terrorist der IRA war, aus Sicht nicht weniger katholischer Bewohner Nordirlands ein Freiheitskämpfer. Vom Hungerstreik im Maze Prison, wo in den 1970er- und 80er-Jahren Hunderte Teilnehmer des nordirischen Bürgerkriegs inhaftiert waren, handelt Steve McQueens Debütfilm "Hunger". Die Häftlinge wollen als politische Gefangene anerkannt werden, sie weigern sich, die normale Sträflingskleidung zu tragen, beschmieren ihre Zellen mit Kot und erdulden Misshandlungen durch die Wärter. "Hunger" ist so radikal wie das Anliegen von Bobby Sands, intensiv, hochästhetisch, schonungslos – auch für Hauptdarsteller Michael Fassbender: Der nahm während der Dreharbeiten 20 Kilo ab.
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"Hunger", Großbritannien 2008, 92 Minuten
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Die Zeit im Gefängnis verändert einen Menschen – manchmal sogar zum Guten. Als glühender Nazi geht Derek Vinyard (Edward Norton) in Haft, verurteilt zu drei Jahren für den Totschlag an zwei Schwarzen. Im Gefängnis schließt er sich Mithäftlingen aus der rechten Aryan Brotherhood an. Doch als er wieder rauskommt, hat er sich von der Szene abgewandt, sehr zum Missfallen seines kleinen Bruders Danny, der ein Neonazi geworden ist. In Rückblenden wird der Läuterungsprozess Derek Vinyards gezeigt, dem sich in einem Umfeld, in dem Weiße in der Minderheit sind, neue Sichtweisen eröffnen.
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"American History X", USA 1998, 114 Minuten
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Misshandlungen, Hungerstreiks, Rassismus, Todeskandidaten, die auf ihre Hinrichtung warten: Wenig überraschend, dass das Gefängnisfilmgenre eine eher ernste Angelegenheit ist. Dabei kann so ein Film auch ganz anders aussehen – zum Beispiel wie ein Jazzmusical aus den 1920ern, mit Theaterkunstlicht, Kostümwechseln und ausgefeilt choreografierten Gesangseinlagen. Die Story von "Chicago" dreht sich um eine Möchtegern- und eine echte Varietékünstlerin (Renée Zellweger, Catherine Zeta-Jones), beide wegen Mordes im Frauengefängnis, und einen windigen Staranwalt (Richard Gere), der genau weiß, wie er seine Klientinnen in der Öffentlichkeit präsentieren muss. So ist "Chicago" auch Mediensatire, vor allem aber: große Hollywood-Unterhaltung, prämiert mit sechs Oscars.
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"Chicago", USA 2002, 113 Minuten
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Treffen sich ein Radio-DJ, ein Zuhälter und ein Italiener in einer Gefängniszelle in New Orleans … Klingt wie ein Witz und ist auch ziemlich lustig: "Down by Law" ist einer der früheren Filme des Independent-Regisseurs Jim Jarmusch, und der lässt seine Protagonisten (Tom Waits, John Lurie, Roberto Begnini) in einem präzise gefilmten schwarz-weißen Theaterstück voller absurder Szenen und Dialoge aufeinander los, erst in Freiheit, dann im Gefängnis, schließlich auf der Flucht. Zwischendurch tanzen die drei durch ihre Zelle und skandieren "I scream. You scream. We all scream for ice cream." Viel Spaß!
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"Down by Law", USA 1986, 107 Minuten
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Titelfoto: Netflix
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"Singe jetzt, o Muse, die Geschichte der rezessiven Mutation auf meinem Chromosom fünf!", lässt Jeffrey Eugenides den Ich-Erzähler in seinem Erfolgsroman "Middlesex" homerisch raunen. Eugenides, Amerikaner mit teils griechischen Wurzeln, erzählt darin viel aus seiner Familiengeschichte, um das Leben seines Helden farbig zu grundieren. Dieser Held ist intersexuell, zweigeschlechtlich aufgrund eines seltenen Gendefekts. Er wird als Mädchen aufgezogen, entscheidet sich aber später, als Mann zu leben. Die Frage, was den Menschen als geschlechtliches Wesen vor allem bestimmt – die Gene oder die Umwelt –, zieht sich durch das Buch. Mit großem Erzählgestus kreuzt Eugenides seinen Gender-Bildungsroman mit einer groß aufgezogenen Familiensaga. Entsprechend dickleibig ist das Endprodukt ausgefallen, liest sich aber süffig weg. Übrigens spielt ein Teil der Rahmenerzählung in Berlin – vermutlich allein deshalb, weil der Autor damals dank eines Stipendiums dort lebte.
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Aus dem Englischen von Eike Schönfeld. Rowohlt TB, 736 S., 10,99 Euro
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Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (2005)
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Alles könnte so schön sein in dem Internat, in dem Kathy, Tommy, Ruth und die anderen aufwachsen – aber nein, es könnte nicht nur, es ist sehr schön! Die Jugendlichen werden gut umsorgt, haben viele Möglichkeiten, Sport zu treiben und kreativ zu sein, alles ist toll. Da sie nichts anderes kennen, nehmen sie es als ihr natürliches Schicksal hin, "Spender" zu sein: menschliche Ersatzteillager, geklont allein zu dem Zweck, sämtliche verwertbaren Organe zu spenden und an der finalen Spende noch in jungen Jahren zu sterben. Das klingt nach hartem Stoff, aber der britische Autor Kazuo Ishiguro hat alles andere als einen gruseligen Gentechnik-Schocker geschrieben. Eher ist sein Roman ein philosophisches Gedankenexperiment zur ewig unlösbaren Frage nach dem Sinn des Lebens und des Todes. Ein sanfter, traurig-schöner Hauch von Melancholie liegt über seinem Roman, in dem niemand seinem vorherbestimmten Schicksal entkommt. Denn nicht einmal die Liebe rettet vor dem sicheren Tod. Und das gilt schließlich nicht nur für Ishiguros Klonkinder, sondern für uns alle.
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PS: Ja, dieser Roman wurde auch verfilmt, sogar mit Carey Mulligan und Keira Knightley in Hauptrollen, die Verfilmung stieß aber nicht auf einhellige Zustimmung bei der Kritik.
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Aus dem Englischen von Barbara Schaden. btb, 352 S., 9,99 Euro
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Wolverine (1974)
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The Incredible Hulk #181: Der Superheld Wolverine ist mit seinen ausgeprägten Sinnen und Selbstheilungskräften einer der spektakulärsten unter den X-Men-Mutanten
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Unter den genetisch außergewöhnlichen Figuren im Comic-Universum stechen besonders die X-Men-Mutanten hervor. Einer von ihnen ist der Superheld Wolverine, der als James Howlett mit animalisch ausgeprägten Sinnen und spektakulären Selbstheilungskräften im späten 19. Jahrhundert geboren wird. Seine Markenzeichen sind Klauen, die aus den Handrücken hervorschnellen und, gemäß der heutigen Ursprungsgeschichte, bereits in jungen Jahren zum Einsatz kommen. Zur Flucht aus seinem Elternhaus gezwungen, baut der zwischenzeitlich in der Wildnis lebende James seine Fähigkeiten aus, was ihn für das geheime Regierungsprogramm "Weapon X" interessant macht. Dort verschmilzt man sein Skelett und seine Krallen mit dem unzerstörbaren Metall Adamantium und schafft so eine perfekte Kampfmaschine. Seinen ersten Auftritt hat der später zum X-Men-Team hinzustoßende Mutant 1974 im Marvel-Comic # 180 "The Incredible Hulk". Spannend ist die Figur des Wolverine vor allem deshalb, weil sie den oftmals tragischen Außenseiterstatus von Menschen mit exzeptionellen Fertigkeiten unterstreicht und exemplarisch für all die Superhelden steht, die von eigennützigen Organisationen als Versuchskaninchen und Handlanger missbraucht werden.
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Ridley Scott: Blade Runner (1982)
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Ursprünglich sollte dieser düster-geniale Science-Fiction-Klassiker, dessen erste Version 1982 in die Kinos kam, "Android" heißen – nach Philip K. Dicks Roman "Träumen Androiden von elektrischen Schafen?", der ihm zugrunde liegt. "Replikanten" werden die Androiden im Film genannt. Sie sind gentechnisch hergestellte menschliche Klone, die erschaffen wurden, um für die Menschheit die Lebensbedingungen auf anderen Planeten zu testen. Das Betreten der Erde ist ihnen streng verboten; wer es dennoch wagt, wird verfolgt und liquidiert. Angeblich unterscheiden sich Replikanten darin von "echten" Menschen, dass ihnen die Empathiefähigkeit fehlt. Diese Prämisse aber wird im Film immer wieder in Frage gestellt. Nicht nur verliebt sich (Harrison Ford als) Replikantenjäger Rick Deckard in eine Replikantin; auch sein übermenschlich starker Widersacher Roy erweist sich letztlich als "menschlicher" als viele Menschen. Was also macht einen Menschen dann wirklich aus? Eine große Frage, auf die "Blade Runner" eine letztgültige Antwort verweigert. Jahrtausendkino.
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Andrew Niccol: Gattaca (1997)
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In "Gattaca" erschafft die Medizin Menschen, die nur die besten genetischen Eigenschaften ihrer Eltern tragen. Und es entsteht eine Gesellschaft, in der nur solch makellos konstruierten Retortenbürger Aufstiegsmöglichkeiten haben
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"In einer nicht allzu fernen Zukunft", wie es am Anfang heißt, kann die Medizin Menschen erschaffen, die lediglich die besten genetischen Eigenschaften ihrer Eltern tragen. Entstanden ist eine Gesellschaft, in der nur makellos konstruierte Retortenbürger Aufstiegsmöglichkeiten haben. Natürlich gezeugte Individuen wie Vincent Freeman (Ethan Hawke) müssen einfache Tätigkeiten verrichten, was den jungen Mann jedoch nicht davon abhält, seinem Traum zu folgen: Um Raumfahrer zu werden, erwirbt er verbotenerweise die genetische Identität eines künstlich ausgereiften, inzwischen aber gelähmten Sportlers. Andrew Niccols bedächtig erzählter Science-Fiction-Film zeigt in ausdrucksstarken Bildern, wohin der Glaube an den perfekten Menschen führen kann: Diskriminierung und Unterdrückung sind die Merkmale einer "schönen neuen Welt", die heute, 20 Jahre später, immer realistischer erscheint.
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Diane Arbus: Identical Twins, Roselle, N. J. (1967)
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Das berühmteste Porträt von Diane Arbus ist das von Cathleen und Colleen Wade, beide damals sieben Jahre alt und nur wenige Minuten nacheinander zur Welt gekommen. Die eineiigen Zwillinge stehen nebeneinander, beide dunkles Kleid, helle Strümpfe, helles Haarband, exakt gleich frisiertes Haar. Man sucht förmlich den Unterschied zwischen den Mädchen mit den genetisch fast identischen Erbanlagen. Ihre extreme Ähnlichkeit wirkt unheimlich. Kein Wunder, dass Stanley Kubrick ebenfalls eineiige Zwillingsmädchen in seinem Horrorfilm-Klassiker "The Shining" (1970) auftreten lässt. Weniger gut gefiel das Bild den Eltern der Zwillinge. Sie ließen die Verbreitung damals verbieten. Immer wieder wurde Arbus vorgeworfen, sie würde die Menschen bloßstellen, die sie fotografiert, darunter Hoch- und Kleinwüchsige, Menschen mit Downsyndrom. Nachts durchstreifte sie die Spelunken, Peepshows und Bordelle in New York und besuchte Nudistencamps, Leichenschauhäuser und psychiatrische Anstalten. Die Tochter aus gutem Hause war fasziniert von allem, was anders war. Normalität und Abweichung war ihr großes Thema. Nach ihrem Selbstmord 1971 wandelte sich der Blick auf ihr Werk. Viele der Porträtierten wurden nun als Wahlverwandtschaft der depressiven Fotografin gesehen.
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Orphan Black (seit 2003)
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Eines Tages stellt Trickbetrügerin Sarah Manning fest, dass sie in einem Klon-Projekt entstanden ist und weltweit viele baugleiche "Schwestern" hat – von denen schon einige getötet worden sind
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Im Mittelpunkt der kanadischen TV-Serie steht die Trickbetrügerin Sarah Manning. Nachdem sie eine Frau, die ihre Doppelgängerin sein könnte, dabei beobachtet, wie sie sich vor einen einfahrenden Zug wirft, nimmt Sarah deren Identität an. Schon bald muss die junge Frau jedoch feststellen, dass sie einem Klon-Projekt entsprungen ist und über den Globus verteilt viele "Schwestern" existieren. Als einige von ihnen getötet werden, stellt Sarah gemeinsam mit einer kleinen Gruppe von Leidensgenossinnen Nachforschungen an und gerät dabei immer wieder in große Gefahr. Dank eines hohen Tempos und unzähliger schockierender Wendungen reißt die Mischung aus Science-Fiction, Thriller und Horror den Zuschauer mit, schafft es aber auch, das Ringen der Klone um eine eigene Identität zu beleuchten. Immer wieder erstaunlich ist die Darbietung von Hauptdarstellerin Tatiana Maslany, die diversen Figuren über Mimik, Gestik und Verhalten eine individuelle Persönlichkeit verleiht.
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Titelbild: Replikant Zhora in Blade Runner / Foto: Warner Bros. / via Getty
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Es liegt schon einige Jahre zurück, da machte Guyana weltweit gruselige Schlagzeilen: Am 18. November 1978 kam es in der Siedlung Jonestownim Nordwesten des Landes zu einem kollektiven Selbstmord von mehr als 900 Menschen. Der US-amerikanische Sektenführer Jim Jones, der zu dieser Zeit mit seinen Anhängern völlig abgeschottet im Urwald lebte, hatte allen befohlen, Zyankali zu nehmen. Wahrscheinlich weil er fürchtete, nach dem Besuch eines US-Abgeordneten könnte bekannt werden, dass einige Sektenmitglieder gegen ihren Willen in Jonestown festgehalten wurden. Er selbst starb bei dem Massaker.
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Das heutige Guyana geht auf niederländische Kolonien im 16. und 17. Jahrhundert zurück, gehörte später dann aber auch zu Großbritannien und Frankreich, bis das Land 1966 unabhängig wurde. Gut 20 Prozent der rund 780.000 Einwohner leben in der Hauptstadtregion Georgetown. Die größten ethnischen Gruppen der Republik sind die Afro-Guyaner, die von ehemaligen Sklaven aus Afrika abstammen, und die Indo-Guyaner, deren Vorfahren ab 1838 als Vertragsarbeiter aus dem ehemaligen Britisch-Indien ins Land geholt wurden. Die Amtssprache ist Englisch. Seit 2015 wird Guyana von dem Präsidenten David Arthur Granger, einem ehemaligen hochrangigen Militär, geführt. DieBestrafung homosexueller Handlungenund auch die Todesstrafe imStrafrechtgehören zur traurigen Realität unter seiner Regierung.
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Suriname mit der Hauptstadt Paramaribo ist das kleinste unabhängige Land Südamerikas. Im Jahr 1498 entdeckte es Christoph Kolumbus – ebenso wie Französisch-Guayana. Geprägt wurde es dann vor allem durch die Niederländer, die dort 1613 einen Handelsposten errichteten, und später durch die Engländer. Von der ethnisch sehr heterogenen Bevölkerung der rund 570.000 Einwohner stammt heute mehr als ein Drittel vonafrikanischen Sklavenab, fast die Hälfte der Surinamer ist christlich. Die Amtssprache ist Niederländisch. Die wechselvolle Geschichte des Landes reicht von der Abschaffung der Sklaverei (1863) über die Unabhängigkeit von den Niederlanden (1975) bis zu der Zeit der Militärdiktatur (1980–1987). Ein großer Teil der Bevölkerung emigrierte im 20. Jahrhundert, etwa um Arbeit zu finden. So gingen mehrere Hunderttausend Surinamer in die Niederlande. Heute lebt ein großer Teil der Surinamer im Ausland. Nach demokratischen Wahlen im Jahr 2015 regiert Präsident Desi Bouterse, doch immer noch wird die Politik bestimmt vom Einfluss des alten Militärs und ist durch Korruption gekennzeichnet. Die Wirtschaft des Landes profitiert vor allem von Bodenschätzen wie Gold und Erdöl.
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Die sogenannte Teufelsinsel, 13 Kilometer vor der Küste Französisch-Guayanas, wurde fast 100 Jahre lang bis 1946 als Strafkolonie für Schwerverbrecher genutzt. Bis zu 70.000 Häftlinge lebten unter menschenunwürdigen Verhältnissen in dem Arbeitslager. Im 20. Jahrhundert brachten das als autobiografischer Roman vermarktete Buch "Papillon" von Henri Charrière und die Verfilmung des Stoffes die Teufelsinsel erneut ins kollektive Gedächtnis. Heute befindet sich auf dem Archipel auch eine Radar- und Funkstation, um die Raketenstarts aus dem Raumfahrtzentrum Guayana zu überwachen. 1968 von den Franzosen in der Stadt Kourou in Betrieb genommen, wird der für das Land wirtschaftlich bedeutende Weltraumbahnhof seitdem immer wieder erweitert. Wenngleich Französisch-Guayana wie viele Länder Südamerikas von Niederländern, Briten und Franzosen kolonialisiert wurde, besitzt es eine Sonderstellung auf dem Kontinent. Denn seit 1946 gehört das ethnisch sehr diverse Land mit seiner Hauptstadt Cayenne und seinen circa 260.000 überwiegend christlichen Einwohnern als Übersee-Département zu Frankreich. Damit gelten die französischen Gesetze, und das Land ist Teil des EU-Binnenmarkts.
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Letztere Statistik überrascht, galten doch vor allem junge Dunkelhäutige in den Großstädten als suchtgefährdet. Doch die neuen Junkies sind weiße Vorstädter. Leute, die mal ein bürgerliches Leben hatten – bis sie aus der Bahn geworfen wurden und schließlich auf Heroin hängen blieben. Oft wegen einer Krankheit.
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Der Verfall vieler Menschen ist wie ein Spiegel des Verfalls der Landschaften, in denen sie leben – wie hier in einem Vorort von Detroit
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Kathleen Frydl ist Historikerin an der University of California und Autorin des Buches "The Drug Wars in America, 1940-1973". Sie hat sich die Statistiken in den Staaten des "Rust Belts", dort wo die Stahlindustrie darniederliegt und Trump entscheidende Gewinne erzielen konnte, genau angeschaut: Wisconsin, Pennsylvania, West Virgina, Michigan und Ohio. Es sind genau die Wahlkreise, die am stärksten von der Heroin-Epidemie betroffen sind, die früher mehrheitlich demokratisch gewählt und nun für Donald Trump gestimmt haben. In Pennsylvania zum Beispiel weisen alle Wahlkreise, die 2012 mehrheitlich Barack Obama und 2016 Trump gewählt haben, außergewöhnlich hohe Raten von Menschen auf, die an einer Überdosis gestorben sind.Viele dieser Menschen entstammen also einem Milieu und einer Region, in der Donald Trump bei den Präsidentschaftswahlen viele Stimmen holen konnte.
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Dort, wo sich einmal Fabrik an Fabrik reihte, um chromblitzende Straßenkreuzer und Wolkenkratzerträger zu produzieren, und wo man als Arbeiter besser verdienen konnte als viele Akademiker, sind jetzt fast nur noch Ruinen und Brachflächen übrig – und kaum noch Jobs. In der Stahlindustrie sind die USA weit hinter Asien zurückgefallen. Von außen betrachtet glitzern die Skylines der Städte im Nordosten immer noch in der Sonne. Doch wer genauer hinsieht, entdeckt die verlassenen Häuser, die arbeitslosen Jugendliche, die armen Alten und die zusammengestürzten Brücken zwischen Straßen voller Schlaglöcher.
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Good Morning America, Bonjour Tristesse: Ein Vorort irgendwo im Rustbelt, wo man früher als Arbeiter besser verdienen konnte als viele Akademiker, heute aber kaum noch Hoffnung ist
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Waren die Trump-Wähler also alle high?
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Historikerin Frydl selbst warnt vor einer simplifizierten Darstellung. Doch es gebe Anzeichen dafür, dass die Drogenproblematik bei der Wahlentscheidung zumindest indirekt eine Rolle gespielt habe. Die Heroin-Epidemie erscheint als Symptom der gleichen sozialen Misere, aus der heraus vielen Menschen dieser Region Trump als die letzte Hoffnung erschien, hier würde sich jemand noch um ihre Probleme kümmern – während die Demokraten sie vergessen hätten. Exemplarisch zitiert Frydl einen Mann, der zu ihr sagte: "Trump hat eine Chance verdient, denn bisher ist nichts passiert. Wir leben seit Jahren in einer Hölle und nichts ist besser geworden."
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Wirklich verstehen lässt sich diese Heroin-Epidemie allerdings nur, wenn man sie auch vor dem Hintergrund der weiten Verbreitung bestimmter Arzneimittel in dieser sozialen Schicht betrachtet –und der Sucht der Pharmahersteller nach Profiten. Dass es so viele Heroinabhängige gibt, hängt untrennbar zusammen mit der Geschichte des Schmerzmittels Oxycontin, der Heroin-Ersatzdroge Suboxone, und Naloxon, das im Falle einer Überdosis lebensrettend wirken kann. Alex Lawson, Leiter der gemeinnützigen Organisation "Social Security Works", die sich um die wirtschaftlich Absicherung sozial Benachteiligter kümmert, beschreibt das Vorgehen der Pharmakonzerne so: "Die Heroin-Epidemie ist keine unvermeidliche Tragödie, sondern die Konsequenz einer pharmazeutischen Industrie, die mit einer immer aggressiveren Taktik, Ärzte dazu bringt, hochwirkungsvolle Opioide für alle Arten von Beschwerden zu verschreiben, auch für geringe Schmerzen, für die sie absolut unnötig sind."
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Unter Opiaten und Opioiden versteht man natürliche, halbsynthetische und synthetisch hergestellte Substanzen, die Schmerzen lindern, indem sie bestimmte Gehirnregionen beeinflussen. Der Einsatz von Opioiden als Schmerzmittel ist in den USA in den vergangenen 25 Jahren explodiert.
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Die Wirkung des Schmerzmittel Oxycontin potenziert und beschleunigt sich noch, wenn es zerkrümelt und gespritzt wird wie Heroin. Viele Menschen rauchen es aber auch
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Oxycontin wurde 1996 von dem Konzern "Purdue Pharma" auf den Markt gebracht, basierend auf inzwischen als unseriös eingestuften wissenschaftlichen Gutachten, die selbst einen Langzeitkonsum des Schmerzmittels als nicht suchtgefährdend deklarierten. Die Wirkung des Mittels potenzierte und beschleunigte sich indessen noch, wenn es zerkrümelt und gespritzt wurde wie Heroin. Es wurde zum "Blockbuster-Medikament". Als Blockbuster gelten in der Pharmaindustrie Medikamente, die einen jährlichen Umsatz von über einer Milliarde US-Dollar machen. Mehr als 30 Milliarden Dollar Umsatz soll die Pille dem Unternehmen Purdue Pharma insgesamt eingebracht haben.
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Noch im Jahr 2012 wurde durchschnittlich jedem Amerikaner eine ganze Flasche der so genannten Oxys verschrieben, Schmerzmittel, die Oxycodon enthalten. Bei jedem achten, dem sie verschrieben wurden, führte das in die Abhängigkeit. Von 1999 bis 2015 starben in Amerika über 183.000 Menschen allein an einer opioidhaltigen Schmerzmittel-Überdosis. Auch der Sänger Prince, der im April letzten Jahres gestorben ist, soll aufgrund einer solchen Überdosis sein Leben gelassen haben.
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Die Schmerzmittel wurden verschrieben, sie wurden gehandelt, und viele der Menschen, die keine Krankenversicherung hatten, dafür aber große Schmerzen, kauften die Pillen direkt, anstatt vorher noch Geld für einen Arzt und dessen Beratung auszugeben. Allerdings: Wohl nicht alle hatten Schmerzen physischer Art. Vielen ging es auch darum, der Hoffnungslosigkeit ihrer Welt wenigstens für Momente zu entfliehen. Gerade im Rust Belt gibt es kaum noch Jobs, gerade von den Jüngeren haben viele die Regionen verlassen, um woanders Arbeit zu finden. Was übriggeblieben ist, beschreibt Historikerin Kathleen Frydl als "eine Zeitbombe für den Generationenvertrag, die langsam explodiert und noch Jahrzehnte in verlassenen Straßen und zusammenbrechenden lokalen Einwohnerzahlen widerhallen wird."
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In vielen Bundesstaaten wurde den Behörden das Problem langsam bewusst und sie begannen, die Schmerzmittelabgabe zu reduzieren. Die Opioidabhängigen aber brauchten einen Ersatz. Und fanden ihn bei den Heroindealern auf der Straße.
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Auch einige Regionen in den Appalachen hat es hart getroffen. Viele Menschen dort haben keine Arbeit mehr, seitdem die meisten Kohlenminen geschlossen worden sind
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Doch auch im Kampf gegen die Sucht vertrauen die US-Behörden nun wieder auf die Pharmahersteller und ihre Mittel. So sind im US-Haushalt 2017 mehr als 1 Milliarde Dollar für die "zwei Jahre laufende obligatorische Förderung der besseren Verfügbarkeit von Arzneimitteln bei Medikamentenabhängigkeit und Heroinkonsum" vorgesehen. Die wichtigsten Waffen sind die Mittel Suboxone, ein dem Methadon ähnliches Ersatzmittel und Naloxon (Narcan), ein sogenannter Opioid-Gegenspieler.Nora Volkow, die Leiterin des "National Institute of Drug Abuse" (Nida) in den USA, beschreibt das Problem auf biochemische Art: "Da die Opioide auf dieselben Hirnsysteme wirken wie Heroin und Morphin, gibt es eine Neigung, sie zu missbrauchen, insbesondere wenn sie für nichtmedizinische Zwecke verwendet werden. Sie sind am gefährlichsten und am stärksten süchtig machend, wenn sie über Methoden eingenommen werden, die ihre euphorischen Effekte erhöhen sollen."
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Es gibt viele Verlierer im Rust-Belt, und es gibt viele Verlierer der Heroin-Epidemie in den USA. Die Pharmaindustrie gehört nicht dazu.
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Casper "Die letzte Gang der Stadt"
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"Ein richtig zufriedenes Land kann man nur mit einer zufriedenen Provinz haben" hat Casper mal in einem Interview gesagt. In seinen Texten spielt dasHinterlandimmer wieder eine Rolle – ob es nun gleich ein ganzes Album mit dem gleichnamigen Titel ist oder zusammen mit Marteria eine Reise durch seine ostwestfälische Heimat. Alle, die schon mal auf einem Schützenfest waren, eine urdeutsche Provinzerfahrung, werden sich sofort daran erinnern, wenn sie "Die letzte Gang der Stadt" hören. Daran, dass es etwas Peinliches hatte, zu der Dorfband abzugehen und sich trotzdem dabei irgendwie geil zu fühlen.Weil es eben nirgendwo so schön einfach ist wie auf dem Dorf, Teil des Ganzen und gleichzeitig doch dagegen zu sein.
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grim104 "Crystal Meth in Brandenburg"
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Manche Lieder sind auch Filme. Bei "Crystal Meth in Brandenburg" schießen einem sofort Bilder verödeter Landschaften, dunkler Wälder und deprimierender Menschen vor versifften Gardinen in den Kopf. "Sie sitzen und warten. Und auf was? Dass der Nettomarkt endlich wieder aufmacht, in der Kneipe jemand auflacht? Dass Geld da ist zum Bausparen? Das kannst Du aber sehr schnell vergessen." Klingt hart, ist es auch. Vor allem, weil es in manchen Regionen Deutschlands der Realität ziemlich nahekommt, was grim104 da rappt. Als die brandenburgische CDU 2017 dazu aufrief, Funklöcher zu melden, gingen innerhalb eines Jahres 23.237 Meldungen ein. Auch bei den diesjährigen Landtagswahlen in Brandenburg gaben die meisten Wähler*innen an, dass sie vor allem imBereich Infrastrukturdringenden Handlungsbedarf sehen würden. Wenn die vernachlässigt wird, ist es kein Wunder, wenn sich auch die Menschen abgehängt fühlen. Um das zu verstehen, muss man nicht immer eine soziologische Studie lesen, hinhören reicht manchmal auch.
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Shindy "Bietigheim Sunshine"
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Manchmal ist das Gras in der Provinz grüner. In "Bietigheim Hills" etwa, wie Shindy seine schwäbische Heimat besingt. Und der auch Rin und Bausa die Treue halten. Shindys Bling Bling beginnt jedenfalls erst in Bietigheim-Bissingen so richtig zu glitzern: "Deinen krassen Porsche sehe ich alle zwei Minuten hier". Wenn er seinen "koksweißen S-Coupé in der zweiten Reihe vor der Kreissparkasse" parkt, ist das mehr als nur stumpfes Aneinanderdroppen irgendwelcher Edelmarken. Es ist auch Realität, jedenfalls ein bisschen: Die Stadt zählt zu den reichsten Gemeinden Deutschlands, im März lag die Arbeitslosenquote bei 2,4 Prozent, Porsche und der Hemdenproduzent Olymp haben unter anderem ihren Hauptsitz dort. Eine Kleinstadt also, die alles andere als abgehängt ist – wirtschaftlich wie musikalisch.
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Dendemann "Wo ich wech bin"
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Was als "Eins Zwo" zusammen mit DJ Rabauke begann, setzt Dendemann auch als Solokünstler mit absoluter Leichtigkeit fort: unfassbar originell und witzig über das Leben in all seinen Alltäglichkeiten zu rappen. Auch über das Aufwachsen. Mit nur wenigen Worten und frei von irgendwelchen Wertungen schafft Dendemann es in "Wo ich wech bin" nicht nur generell zu beschreiben, was uns alle als Jugendliche so umgetrieben hat beziehungsweise treibt, sondern ganz nebenbei auch noch die Besonderheiten des Großwerdens auf dem Dorf zu verhandeln. Kleine Kostprobe gefällig? "Idyllabfuhr wo bleibst du nur?/ 1:0 für die Vereinskultur/ Die reinste Ruhe, Borderline und radikal/ So wie Sportverein und Abiball/ Dis is' wo ich wech bin, hör mal merkst du was?/ Meine Skyline reicht vom Bordstein bis zum Kerzenwachs". Rap mit Land-Dialekt. Auch mal was Neues.
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Juse Ju "Kirchheim Horizont"
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Dass in der Realität doch immer alles komplizierter ist und nicht einfach schwarz-weiß, auf der einen Seite die geile Großstadt und auf der anderen die langweilige Provinz, beweist Juse Ju mit "Kirchheim Horizont". Und er muss es wissen: Geboren im kleinen Städtchen Kirchheim, folgten Jahre in Japan, El Paso, München, Berlin und zwischendurch eben immer mal wieder Kirchheim. In seinem Track macht er deutlich, wie absurd und lächerlich teilweise die Klischees über die Provinz sind ("Jap, wir haben Internet hier, heißt, wir sind informiert") und benennt gleichzeitig doch das Typische, wie Lebenswege hin zum Eigenheim, unterstützt von Papa, dem alten "Sparkassendude" und seinen Beziehungen. Und während es an der einen Stelle heißt "Ich komme wohl nicht wieder", heißt es an anderer "Ich will zurück nach Hause." Wie gesagt: Es ist kompliziert.
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Titelbild: Daniel Biskup/laif
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Stattdessen wurden Joshua Wong und weitere Aktivisten zu Gefängnis- und Bewährungsstrafen verurteilt. Von den sechs Monaten, die Wong bekommen hatte, saß er knapp die Hälfte ab und kam dann gegen Kaution frei, um in Berufung gehen zu können. Im Januar wurde er erneut zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wegen "Auflehnung gegen die Staatsgewalt".
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Nachdem Chinas Staatschef Xi Jinping seine Machtfülle noch erweitert hat und diese auch in der Verfassung festschreiben ließ, sind die Zukunftsaussichten für die Demokratiebewegung in Hongkong nicht gerade besser geworden.
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fluter.de: Herr Wong, sind Sie durch die Erfahrungen der letzten Jahre zahm geworden?
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Joshua Wong: Falls die Zeit im Knast irgendwas mit mir gemacht hat, dann hat sie meinen Glauben daran gestärkt, dass das, wofür wir kämpfen, das Richtige ist. Allein wie viele Leute wir auf die Straße brachten, war beeindruckend. Mehr als 100.000 zu verschiedenen Zeitpunkten protestierten für die demokratische Selbstbestimmung von Hongkong und gegen den zunehmenden Einfluss aus Peking. Ich weiß jetzt, dass den Menschen die Zukunft unserer Stadt wichtig ist. Mit dieser Gewissheit lohnt es sich, jeden weiteren Schritt zu tun.
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Also auch den Gang ins Gefängnis. Aber war Ihnen vorher klar, dass es so weit kommen könnte?
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Mit den Aufständen begannen wir, als klar wurde, dass die Kandidaten zu den Hongkonger Gouverneurswahlen zunächst aus Peking abgesegnet werden sollten. Demokratische Mitbestimmung wurde also zur Farce herabgestuft. Wenn man sich dagegen wehren will, ist auch klar, dass man sich in Gefahr begibt. Am Ende ist jeder Protest ein Akt des Ungehorsams. Genau das sollte durch die politischen Neuerungen aus Peking ja unterbunden werden.
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Wegen Verstößen gegen das Versammlungsrecht wurden Sie zu sechs Monaten Haft verurteilt. Es ging darum, dass Sie während der Proteste einen öffentlichen Platz nicht rechtzeitig geräumt hatten. Wie war der Alltag im Knast?
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Für den Kopf war das Leben dort ganz einfach, auf gefährliche Weise sogar. Es gab nämlich keine Optionen. Auf alles Mögliche, was einem die Offiziellen sagten, durfte man nur mit "Ja" reagieren. Und wenn die richtige Antwort mal "Nein" war, zum Beispiel auf die Frage, ob man noch irgendwas brauche, sollte man stattdessen "Sorry, Sir" sagen. Die Moral davon ist wohl: Zustimmen ist einfach, ablehnen aber schon ein halbes Vergehen. Der Tagesablauf war auch klar geregelt: aufstehen, antreten, essen, wieder antreten. Die Hierarchien waren natürlich auch klar. Immerhin durfte jeder Insasse eine Zeitung abonnieren, und über einen Fernseher konnte man die Nachrichten sehen.
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Regierungssystem Hongkong
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Die Verfassung Hongkongs heißt Basic Law und wurde am 1. Juli 1997 wirksam. Darin ist unter anderem geregelt, dass Hongkong ein Teil Chinas ist und dennoch weitgehend Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit besteht. Dieses Konzept nennt man "ein Land, zwei Systeme". Der Chief Executive der Sonderverwaltungszone Hongkong, der die Funktion des früheren Gouverneurs übernimmt, wird von einem rund 1.200-köpfigen Komitee gewählt. Dieses Wahlkomitee soll die Interessen in Hongkong widerspiegeln. Es wird nur von einem Bruchteil der Bevölkerung gewählt. Seine Mitglieder kommen aus vier verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen, darunter auch Hongkonger Delegierte des Nationalen Volkskongresses von Festlandchina. Der Chief Executive ernennt dann sein Kabinett. Das Stadtparlament wiederum, genannt Legislative Council, wird durch Wahlen bestimmt. Das seit der Rückgabe Hongkongs 1997 geltende Basic Law hatte der Bevölkerung Hongkongs einst direkte Wahlen in Aussicht gestellt, doch eine Wahlreform gab es bislang nicht, auch nicht nach den sogenannten Regenschirm-Protesten im Jahr 2014. Diese entzündeten sich auch an Pekings Entschluss, die Kandidierenden zum Chief Executive künftig vor der Wahl zu "begutachten". Dazu kam es zwar nicht, Peking blieb jedoch dabei, die Kandidaten weiterhin über das nicht repräsentative Wahlkomitee wählen zu lassen. Demokratieaktivisten kritisieren, dass den demokratischen Kräften nur wenige Plätze im Wahlkomitee zugesprochen werden und somit in der Bevölkerung beliebte Politiker kaum Gouverneur werden können.
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Das Gefängnis ist also auch eine charakterliche Umerziehungsanstalt.
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So sieht es aus. Wer wieder rauskommt, soll Autoritäten gehorchen, sich anpassen, nicht mehr anecken. Im Gefängnis geht es deshalb nicht nur um Einschüchterung und schon gar nicht nur um Bestrafung. Demokratisch denkende Bürger sind von Peking nicht gewollt. Deshalb sollen Hongkongs Gefängnisse die schwierigsten Fälle zurechtstutzen.
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Sind die Erfahrungen hinter Gittern ein hochkonzentrierter Vorgeschmack auf das, was die Hongkonger in Zukunft auch draußen erwartet?
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Zum Gefängnis ist Hongkong noch nicht geworden. In einigen Bereichen ist unsere Stadt jetzt semiautokratisch. Im letzten Jahr wurde die Hongkonger Wahl auf die Weise durchgeführt, wie sie von Peking angedacht worden war und wogegen wir uns gewehrt hatten. Wir konnten wählen, aber was den wichtigsten Gouverneursposten anging, durften viele unserer beliebten Alternativen eben nicht auf dem Zettel stehen. Es kommen immer weitere Beschneidungen. Auch die Presse vertritt mehr und mehr die Linie Pekings. Und wir merken, dass wir nicht viel dagegen tun können. Durch die Umbrella-Proteste hat sich ja auch herausgestellt, dass sich die Pekinger Regierung unter Xi Jinping von Volksaufständen nicht besonders beeindrucken lässt.
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Das klingt nach Aufgabe, auch wenn es niemand wahrhaben will.
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So will ich es nicht nennen. Für viele der jüngeren Hongkonger, die Proteste in früheren Jahren nicht miterlebt haben, war das Umbrella-Movement ein Weckruf. Es ist ein Wir-Gefühl entstanden, das sich gegen politische Vereinnahmung richtet. Heute gibt es mehr öffentliche und halböffentliche Veranstaltungen, bei denen das politische Schicksal des Stadtstaats zumindest diskutiert wird. Wir haben eine lebendige Zivilgesellschaft und viele Menschen, die bereit sind, für ihre Überzeugungen ins Gefängnis zu gehen. Und dass die ganze Welt weiß, was in Hongkong vor sich geht, ist unser Verdienst.
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Xi Jinping hat sich mit neuen Rechten ausstatten lassen, Kritik an ihm kann künftig als Verstoß gegen die Verfassung interpretiert werden. Wird sich dies auch negativ auf die Demokratieaktivisten in Hongkong auswirken?
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Das Hongkonger Basic Law garantiert Meinungsfreiheit, insofern sollten wir geschützt sein. Andererseits bekamen wir Aktivisten schon für unsere Proteste im Herbst 2014 große Probleme. Generell wird die Luft für demokratische Stimmen dünner, und die Entwicklungen in Peking sind bestimmt kein gutes Zeichen.
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Wie kann man sich wehren?
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Wir müssen aktiv bleiben. Internationale Aufmerksamkeit ist wichtig. Denn anders als in China können die Menschen in Hongkong Informationen über das Internet erhalten. Wir dürfen also nicht müde werden.
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Zur Zeit der Umbrella-Proteste waren Sie noch Schüler, mittlerweile studieren Sie Politikwissenschaften. Ihr Leben werden Sie jetzt also dem Kampf um Freiheit widmen?
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Das ist der Plan. Mit Nathan Law, der nach 2014 auch ins Gefängnis musste, habe ich vor zwei Jahren die Partei Demosisto gegründet. Nathan bekam bei der Wahl 2017 gleich einen Platz im Stadtparlament, wurde aber später disqualifiziert, weil er seinen Schwur bei Amtsantritt angeblich nicht auf die richtige Weise abgelegt hatte. Durch solche unverhältnismäßigen Strafen lässt uns die Regierung wissen, dass wir hier keinen Platz haben sollen. Aber Hongkong ist auch unsere Heimat. Wir werden weitermachen.
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Wie geht es für Sie persönlich weiter?
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Für mich steht erst mal eine zweite Gefängnisstrafe an. Ich weiß noch nicht genau, wann ich sie antreten muss, aber es dreht sich noch immer um meine Rolle bei den Umbrella-Protesten. Und dann muss ich mein Politikstudium abschließen. Aber den Kampf für Hongkong werde ich nicht vernachlässigen.
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Titelbild: ANTHONY WALLACE/AFP/Getty Images
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Die Literaturkritik geriet ja schon vor Jahren ganz aus dem Häuschen, als mit Clemens Meyer ein waschechter Tätowierter den Literaturbetrieb betrat, dessen mittlerweile von Andreas Dresen verfilmter Roman "Als wir träumten" eine ähnlich verstrahlte Jungmännerhorde in Leipzig beschrieb. Auch damals speiste sich die Begeisterung aus der Sehsucht der satten Feuilletonisten nach einer Räudigkeit, die ihrem eigenen Leben zwischen Schreibtisch und Eigenheim abgeht. Dabei steckt im Anhimmeln der prolligen Prosa auch noch der Beweis der eigenen politischen Korrektheit. Seid doch mal still: Die Unterklasse spricht!
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Philipp Winkler "Hool", Aufbau Verlag, 310 Seiten, 19,95 €
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So gesehen passt das Buch, das mit sechs weiteren auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2016 steht, prima in eine Zeit, in der hitzig über cultural appropiation diskutiert wird – also überkulturelle Aneignung. In der das Tragen von Dreadlocks unter Rassismusverdacht gerät, weil es angeblich die Leidensgeschichte afrikanischer Menschen banalisiert. Oder in der sich Schauspielschüler weigern, arme Menschen zu spielen, weil sie deren Entbehrungserfahrungen nie gemacht haben. Dieser Authentizitätszwang aber stellt die Frage nach dem Wesen vieler Künste in Frage, die ja oft eben genau aus einer Form der Aneignung bestehen. Goethe hat ja nie versucht, sich umzubringen, aber dennoch mit "Die Leiden des jungen Werther" ein wahrhaftiges Buch geschrieben. Im übertriebenen Lob für für den Debütroman von Philipp Winkler lässt sich nun unschwer ein Echo auf diese Debatte heraushören. Selbst wenn es nicht gut ist, ist es gut, weil es authentisch ist.
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Der Reporter Moritz von Uslar hat für sein Buch "Deutschboden" ein ähnliches Milieu ausgeleuchtet und sein tapferes Mittrinken an den Theken Brandenburgs nicht Roman genannt, sondern eine teilnehmende Beobachtung. Tatsächlich hat er die dortige Verrohung stilistisch gekonnt und feinfühlig beschrieben, dass man nach der Lektüre sofort in die nächste Eckkneipe aufbrechen wollte, um mit den dortigen Stammgästen das Gespräch zu suchen.
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Derlei Empathie kommt bei Hool leider nicht auf. Oder nur kurz. Wenn sich nämlich der Freundeskreis von Heiko letztlich auflöst, weil sich seine Kumpel eines Besseren besonnen haben und er ganz allein mit einem Pitbull auf dem Beifahrersitz in die Abendsonne fährt. Die in Niedersachsen natürlich ein feiner Sprühregen ist.
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Hochtouriger Leerlauf: Die Kinder in Dschisr az-Zarqa fahren den ganzen Tag mit dem Rad herum und wissen offensichtlich nicht viel mit ihrer Zeit anzufangen
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Keine Touristenhochburg, nur Schrottberge in den Dünen
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Allen Widrigkeiten zum Trotz hat Neta Hanien sich bei ihrem ersten Besuch sofort in den Ort verliebt. Die Anwältin, Tauchlehrerin und Israelin fühlte sich an die Beduinencamps im Sinai am Roten Meer erinnert. "In meinem Leben bin ich viel gereist und habe das touristische Potenzial hier erkannt. Dschisr liegt direkt am Meer, und einer der bekanntesten Wanderwege, der Israel Trail, verläuft direkt durch den Ort. Also bin ich von Tür zu Tür gegangen und habe nach einem Partner für ein Backpacker-Hostel gesucht", erzählt sie. Allein, als Außenseiterin, Israelin und Frau wäre ein solches Unternehmen eine Unmöglichkeit. Orte wie Dschisr beruhen auf Vertrauen und Familienbande. Auch ihre Freunde und Verwandten hielten sie für waghalsig und naiv. "Aber dann traf ich Ahmad."
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Ahmad Juha nimmt einen tiefen Zug von seiner Zigarette. Die hellblauen Augen stechen aus dem braun gebrannten Gesicht hervor. Jeder hier kennt Juha. Er betreibt nicht nur mit Neta das Hostel, ihm gehört in Dschisr auch ein Café. Seine sieben Kinder helfen dort oft als Kellner aus. Und die Männer des Ortes trinken hier Espresso aus kleinen Pappbechern und rauchen selbst gedrehte Zigaretten. Arbeit gibt es für sie weder hier im Ort noch sonst irgendwo. "Aufgrund der Vorurteile über Dschisr werden sie fast nirgendwo angestellt", erzählt Juha in fließendem Hebräisch. Einige Frauen finden Arbeit als Putzfrauen in jüdischen Siedlungen. Jeden Abend rollen 20 Busse durch den Tunnel nach Dschisr az-Zarqa und bringen die Arbeiterkolonne wieder nach Hause. Nur über eine Brücke und durch diesen Tunnel, vier Meter breit, knapp vier Meter hoch, ist der Ort erreichbar. Eine Abfahrt von der 100 Meter entfernten Autobahn im Osten gibt es nicht. Dschisr ist wie eingekesselt: Im Westen das Mittelmeer, im Norden die Fischfarmen des Kibbuz Ma'agan Micha'el, und südlich des Ortes liegt Caesarea, eine der reichsten Nachbarschaften des ganzen Landes. Auch Benjamin Netanjahu besitzt dort ein Haus mit Rasensprenkler und Malibu-Feeling. Getrennt werden die beiden Ortschaften durch einen Wall, bei dem es sich offiziell um eine Lärmschutzwand handelt. "Damit man unseren Muezzin nicht hört, sagen sie", erklärt Ahmad. "Außerdem ist es bei uns Tradition, an Feiertagen mit Gewehren in die Luft zu schießen. Das gefällt den Anwohnern nicht."
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Neta lacht und schüttelt ihren braunen Lockenkopf. Das könne sie schon irgendwie verstehen, gibt sie zu. Als das Hostel bereits den Betrieb aufgenommen hatte, kam ihr und Juha die Idee zu einem Social Business. Sie stellten internationale Volontäre im Hostel an. "Wir wollen, dass sie teilhaben am Leben in der Stadt", sagt Juha und deutet auf ein Holzschild mit dem Wort "Supermarket". Die Freiwilligen haben im ganzen Ort Wegweiser für die Touristen angebracht. Auf Englisch mit blauer Farbe auf Holz. "Am Anfang waren die Anwohner über die Anwesenheit von Fremden in der Stadt so aufgeregt, dass sie ihnen alles umsonst geben wollten. Ein Eiscafé ist deswegen fast bankrottgegangen", sagt Juha. Gemeinsam mit Neta gründete er das Young-Leaders-Programm, um Kinder aus der Stadt zum Austausch mit den Gästen im Hostel zu motivieren. "Die arabischen Kinder führen die Reisegruppen selber durch das Dorf. Sie sind gezwungen, Englisch zu sprechen und ihre Social Skills mit Fremden zu üben", sagt Neta. Viele kommen nur ein Mal und dann nie wieder. Aber andere bleiben. "Das hier wird ihr Ort des Friedens, ein zweites Zuhause." Für die meisten sei es nicht einfach, an dem Programm teilzunehmen: "Oft werden sie von ihren Freunden gehänselt und ausgelacht." Neta sieht sich an der Kreuzung um. An einer Straßenecke plaudern ein paar bunt gewandete Frauen, aus einem Auto wummert lauter Techno. Hupen, Hundebellen, Kindergeschrei. Ein Falafel-Laden, eine Apotheke und Juhas Café. Von allen Seiten isoliert, ohne Möglichkeit des Wachstums, scheint das Leben in Dschisr immer gleich zu bleiben. Und irgendwie scheint keiner so recht die Schuld daran zu tragen. "Es ist gut, wenn die Kinder sich trauen herzukommen", schließt die vierfache Mutter nachdenklich. "Was sie hier lernen, ist ihre Eintrittskarte zur Außenwelt."
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Die Einwohner Dschisrs haben mit kulturellen Stigmata zu kämpfen, die sie daran hindern, am israelischen Arbeitsmarkt teilzuhaben. "Sie sind sowohl den Israelis als auch ihren arabischen Nachbarn ein Dorn im Auge", erzählt Neta. Einst siedelten Ghawarina-Beduinenfamilien aus Jordanien hier, Nomadenstämme, die ihre Büffel in den umliegenden Sümpfen weideten und widerstandsfähig gegen die in dieser feuchten Gegend weit verbreitete Malaria zu sein schienen. "Man war misstrauisch. Die Menschen hier waren offensichtlich anders als ihre palästinensischen Nachbarn." Als Anfang der 1920er-Jahre die ersten jüdischen Einwanderer in die Gegend vordrangen, halfen die Ghawarina ihnen dabei, die todbringenden Sümpfe auszutrocknen. Viele der jüdischen Arbeiter starben, und Ghawarina gingen in die Geschichtsschreibung der Palästinenser als Kollaborateure ein. Die jüdischen Siedler hingegen gaben ihnen zum Dank für die Hilfe einen Hügel am Strand, auf dem Dschisr seit rund einem Jahrhundert gewachsen ist. Genug Weideland für Vieh gab es dort nicht. Und der Handel mit den arabischen Nachbarn wollte nicht mehr in Schwung kommen. "Selbst Ehen mit Menschen aus Dschisr sind seither verpönt", erzählt Neta. "Deswegen heiraten sie dort lediglich Menschen aus ihrem Ort." Mittlerweile hat das Dorf 14.000 Einwohner, Dschisr platzt aus allen Nähten. Auf vielen Dächern ragen Metallstäbe in die Höhe und künden davon, dass hier wahrscheinlich bald eine weitere Etage draufgesetzt werden muss.
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Eine Lösung für Dschisr muss her. Das wissen sowohl die Einwohner als auch die Regierung. "Ich bin allerdings nicht aus politischen Beweggründen hierhergekommen", betont Neta. Ein arabisch-israelisches Business, ein ideologisches Koexistenz-Projekt sei nicht ihre Motivation gewesen: "Es war einfach mein heimlicher Traum, ein eigenes Hostel zu haben." Jeder Tourist, der in Juha's Guesthouse nächtigt, gibt ungefähr rund 25 Euro im Ort aus. 60 Prozent der Backpacker kommen aus der ganzen Welt, 40 Prozent aus Israel. Zurzeit wohnen vier Dänen und eine Amerikanerin in dem bunt bemalten Hostel. "Wir sind die Ersten, die überhaupt Business und Geld in den Ort bringen", sagt Neta stolz. "Aber ich will, dass mehr Menschen aus Dschisr selbst solche Projekte angehen. Der Erfolg muss hier im Ort bleiben."
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Titelbild: PhotoStock-Israel / Alamy Stock Photo
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Wer in die Zentralafrikanische Republik oder die DR Kongo einreisen will, muss eine Impfung gegen Gelbfieber nachweisen. Wer Niger oder Malaysia besucht, sollte gegen Kinderlähmung immun sein. Und wer im Jahr 2021 auf die Seychellen oder nach Slowenien reisen will, muss eine Covid-19-Impfung nachweisen, wenn er einen negativen PCR-Test oder mehrere Nächte in Quarantäne vermeiden möchte.
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Während niemand gegen die gängigen Reiseimpfungen aufbegehrt, ist die Sache mit den Covid-Impfungen heikler. Auch weil sie nicht nur den internationalen Reiseverkehr, sondern bald schon unseren Alltag betreffen könnten. Private Anbieter wie Konzertagenturen, Fluglinien und Reiseveranstalter wollen die Impfung als Einlassbedingung adaptieren. Wer Antikörper hat, dem steht die Welt offen?
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Für die meisten Menschen ist die Vorstellung einer baldigen Rückkehr zur Normalität ein sehnsuchtsbeladener Gedanke. Cafés, Kino, Saunagänge! Doch dass wir nicht alle gleichzeitig in den Alltag zurückkehren können, scheint bei vielen Deutschen Ängste zu wecken. Und Neid.In einer aktuellen repräsentativen Umfrage der Wochenzeitung "Die Zeit" lehnten es 68 Prozent der Befragten ab, dass Geimpfte ihre Freiheitsrechte zurückbekommen sollen.
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Die Debatte darüber ist mit dem Wort "Impfprivilegien" überschrieben. Und da fängt es schon an: Das Wort "Privileg" suggeriert, man dürfe mehr als andere, wenn es in Wirklichkeit andersherum ist: Jene, die keine Antikörper im Blut nachweisen, dürfen weniger – wer geimpft ist, bekommt nur die ganz normalen Freiheiten wieder, die alle hierzulande normalerweise genießen.
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Angst und Neid sind keine guten Berater. Das zeigt ein Blick auf das, was nicht gefühlt, sondern gesellschaftlich festgeschrieben ist. "Jede Neuinfektion ist die Ansteckung eines Menschen durch einen anderen, und zwischen diesen bestehen – anders als zu Erdbeben – Rechtsbeziehungen", schreibt Rechtsphilosoph Christoph Bublitz im Essay"Es gibt keine Freiheit, Teil einer Infektionskette zu sein". Auch wenn wir uns gerne als losgelöst agierende Individuen sehen: Wir haben unseren Mitmenschen gegenüber Pflichten. Zum Beispiel die, sie nicht zu verletzen.
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Diese Pflicht gilt auch für Gefahren, die vom eigenen Körper ausgehen. Da wir bei einer Covid-19-Erkrankung nicht sicher wissen, ob wir ansteckend sind oder nicht, waren Einschränkungen unserer Freiheiten lange Zeit die einzige Möglichkeit, den Zusammenbruch des Gesundheitssystems und den Tod vieler Menschen zu verhindern – bis jetzt.
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Im Kampf gegen die Pandemie sind Impfstoffe ein vielversprechendes Werkzeug. Sie schützen in einem hohen Maße gegen eine Covid-19-Erkrankung. Erste Untersuchungen weisen darauf hin, dass vollständig Geimpfte eine sehr geringe Wahrscheinlichkeit haben, eine asymptomatische Infektion zu erleiden und andere anzustecken.
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Die US-amerikanischen Centers for Disease Control and Prevention haben deshalb bereits erste Verhaltenslockerungen für Geimpfte zugelassen. Der Deutsche Ethikrat ist zurückhaltender, dennoch sagte dessen Vorsitzende Alena Buyx mit Blick auf die neuesten Erkenntnisse,"dass diese ganz harten individuellen Freiheitsbeschränkungen rein rechtlich sehr, sehr schwierig durchzuhalten sind, wenn der sogenannte Sachgrund entfällt, der Sachgrund der Infektiösität."Aus dem Gesundheitsministerium heißt es, dass Geimpfte vielleicht schon im April erste Freiheiten zurückerhalten könnten.
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Sollten weitere Studien belegen, dass Impfungen die Weitergabe von SARS-CoV-2-Viren verhindern und immer mehr Menschen nach dem Prinzip "Alt vor Jung" geimpft werden, dann könnte die Generation 60 plus schon bald wieder das Leben genießen – mit beschwingten Kreuzfahrten, Theaterabenden und Bruce-Springsteen-Konzerten. Denn privaten Anbietern steht es frei, ihre Waren und Dienstleistungen nur geimpften Personen anzubieten.
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Auch wenn das für einige Pandemiemüde schwer zu ertragen ist: Außer vagen Gefühlen gibt es keinen Grund, Menschen einzuschränken, die keine Gefahr für andere darstellen. Wer sich davon ungerecht behandelt fühlt, dem mag ein Blick über den Tellerrand der BRD helfen: In den meisten Ländern Afrikas und in den armen Staaten Zentral- und Südostasiens werden die Menschen noch bis zu zwei Jahre auf den Schutz vor Covid-19 warten müssen. Wer auf gleiche Rechte für alle pocht, sollte auch so lange auf den Kneipenbesuch verzichten, bis die letzten Impfwilligen in Afrika ihre Spritze bekommen haben. Sinnvoller wäre es, wir würden uns stattdessen für einefaire globale Impfstoffverteilung einsetzenund die Kampagne gegen die Freiheitsrechte der Geimpften schnell begraben.
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Julia Lauter schreibt für Magazine und Zeitungen über Wissenschaft,Umwelt und soziale Bewegungen – sie ist in der allerletzten Impfkategorie und hofft, dass bis zum Herbst nicht noch alles in Flammen aufgeht.
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Collagen: Renke Brandt
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meint Anina Ritscher
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Gesundheitsminister Jens Spahn möchte Geimpften die Möglichkeit geben, zu reisen oder zum Friseur zu gehen, ohne ein negatives Testergebnis vorzulegen. Damit wären Geimpfte und Menschen mit negativem Testergebnis gleichgestellt. Die EU geht mit ihrem "Impfausweis" noch weiter und möchte Geimpften auch die Quarantänepflicht ersparen und so internationale Reisen erleichtern. Politiker:innen aus fast allen Parteien sind sich einig, dass beides gute Ideen sind. Aber ist das fair?
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Bald schon werden weitere Fragen aufkommen: Sollte der Immunitätsnachweis noch mehr Freiheiten wiederherstellen? Sollten Geimpfte etwa auch von Maskenpflicht und Kontaktverbot ausgenommen oder ihnen Restaurant- und Kinobesuche ermöglicht werden?
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Diese Fragen müssen gestellt werden, doch sie bringen auch unangenehme Überlegungen zutage. Denn weitreichende Privilegien für Geimpfte könnten Ungerechtigkeiten verschärfen und Gräben vertiefen.
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Befürworter:innen der Impfprivilegien bevorzugen es, von einer Rückkehr zu den zeitweise eingeschränkten Grundrechten zu sprechen, anstatt von Sonderrechten. Doch Grundrechte sind nur dann etwas wert, wenn sie ausnahmslos für alle gelten.
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Als Argument wird daraufhin manchmal herangezogen, dass es gerecht sei, wenn diejenigen Menschen, die in der Krise am meisten litten, also die Risikopatienten, da auch schneller rauskommen. Ein Rentner etwa, der seine Ehefrau nach Monaten wieder im Pflegeheim besuchen möchte, sollte schnellstmöglich das Recht dazu haben. Das klingt erst einmal logisch.
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Trotzdem ist es unsinnig, die Befreiung von Corona-Maßnahmen an die Immunität zu knüpfen. Denn das verkompliziert die ethischen Überlegungen, die der Impfstrategie zugrunde liegen. Viele Menschen, die besonders unter den Maßnahmen leiden, gehören nicht zur Risikogruppe und werden demnach spät geimpft. Bewohner:innen in Asylunterkünften etwaoder Obdachlose.
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Wäre es dann nicht gerechter, diese Menschen hätten ebenfalls verfrühten Anspruch auf eine Impfung – wenn Geimpfte von den Beschränkungen befreit würden? Stattdessen werden bei der Festlegung Reihenfolge insbesondere das Alter und Vorerkrankungen berücksichtigt. Das ist nicht gerecht.
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Zurzeit wird der Impfstoff aber noch nicht einmal gemäß dem aktuellen System der Impfstrategie gerecht verabreicht. Bereits jetzt gibt es zahlreiche Berichte über einzelne Menschen – zum Beispiel Politiker:innen –, die sich ihre Impfung erschlichen haben, obwohl sie gemäß Impfstrategie noch nicht an der Reihe waren. Es ist vorstellbar, dass solche Vorfälle sich häufen werden. Mit dem Immunitätsnachweis würden solche sozialen Ungerechtigkeiten noch verschärft.
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Für den Besuch im Pflegeheim bräuchte es abgesehen davon nicht zwingend einen Immunitätsausweis. Der Ethikrat spricht stattdessen in einer Stellungnahme davon, dass Ärzt:innen in besonderen Fällen eine Befreiung von den Corona-Einschränkungen ausstellen – zum Beispiel mit einem aktuellen PCR-Test – und so etwa Besuchsregeln in Pflegeheimen für einzelne Personen lockern könnten.
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Würden weitreichende Impfprivilegien eingeführt, müssten wir zudem auch darüber reden, ob es tatsächlich nur um Freiheiten ginge – oder auch um Pflichten. Schließlich würde mit der Immunität, zumindest wenn man es zu Ende denkt, auch der Anspruch auf staatliche Hilfestellungen hinfällig werden. Könnten Arbeitnehmer:innen etwa dazu verpflichtet werden zu arbeiten, während ihre ungeimpften Kolleg:innen nochin Kurzarbeitsind?
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Ganz zu schweigen von Verschwörungsideolog:innen, die sich mit der Einführung eines Immunitätsausweises in ihrer Befürchtung bestätigt sähen, dass wir uns in einer vermeintlichen "Impfdiktatur" befinden. Impfprivilegien könnten diese ohnehin schon gefährliche Stimmung womöglich weiter anheizen – das ist es nicht wert.
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Diese Pandemie ist ein gesamtgesellschaftlicher Kraftakt. Sie erfordert Mühen von jedem und jeder Einzelnen. Auch der Weg aus der Pandemie hinaus ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und muss von allen gleichermaßen mitgetragen werden. Sonderrechte für Geimpfte würden das Gegenteil suggerieren: Einige könnten – oder müssten – die Pandemie schneller überwinden als andere.
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Das würde sogar rückblickend die Appelle der Bundesregierung unglaubwürdig machen. Schließlich waren Zusammenhalt und Solidaritätdiepolitische Message in der Pandemiebekämpfung. Und jetzt soll mit einem Immunitätsausweis wieder in vielen Bereichen zum individualistischen Status quo zurückgekehrt werden? Es wäre schädlich für die Bewältigung weiterer Krisen, die bestimmt kommen werden, wenn die Forderung nach Solidarität sich als Floskel enttarnt.
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Anina Ritscher schreibt über Rechtsextremismus, Desinformation und Verschwörungsideologien – mit Impfverweigerung schlägt sie sich also schon länger herum. Sobald sie geimpft ist, will sie wieder eine ganze Nacht in der Kneipe verbringen.
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fluter/Interview-Herfried-Muenkler-Nation-Deutschland.txt
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Sind Herkunft und Pass die entscheidenden Faktoren, die einen Menschen zum Deutschen machen?
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Nicht unbedingt. Es gibt ja sehr viele, die aus anderen Räumen nach Deutschland gekommen sind und dennoch Deutsche sind. Die lange Zugehörigkeit zu diesem Raum und seiner Kultur ist keine Voraussetzung der Zugehörigkeit. Ein wichtiges Element, um Deutscher zu werden, ist aber die Bereitschaft, sich mit der Geschichte des Raums und seinen Gepflogenheiten zu beschäftigen.
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Was sind denn deutsche Gepflogenheiten?
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Da bewegt man sich schnell im Bereich der Klischees. Vielleicht kann man es am allerbesten herausfinden, indem man etwa Türken, die lange in Deutschland gelebt haben, beobachtet, wenn sie in der Türkei sind. Was ihnen dort fehlt, ist ein guter Indikator dafür, wie deutsch sie geworden sind. So haben sie beispielsweise eine gewisse Erwartung an Pünktlichkeit oder Akkuratesse.
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Bilden wir also Identitäten, indem wir zwischen dem Eigenen und dem Anderen unterscheiden?
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Identitätsbildung von individueller bis zu kollektiver Identität ist ein ständiger Prozess des Hin und Her. Wer wir sind, erfahren wir durch die Beobachtung der Anderen, die wiederum uns beobachten. Deshalb fordert uns das Ankommen der vielen Flüchtlinge auch heraus. Allerdings – das darf nicht übersehen werden – entsteht ein Bewusstsein von Identität gerade dann, wenn man mit solchen Herausforderungen konfrontiert wird. Wenn wir nur unter unseresgleichen sind, stellen wir uns gar nicht erst die Frage, wer wir sind. Der Andere oder der Fremde nötigt uns dazu, dass wir erstens darüber nachdenken, wer wir sind, zweitens, wer wir sein wollen, und drittens, wer wir sein können. Und das ist ein Jungbrunnen für jede Gesellschaft.
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Inwiefern ein Jungbrunnen?
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Ein Gemeinwesen muss sich immer wieder erneuern, sonst vermodert es. Zur Erneuerung des Gemeinwesens hat zum Beispiel die Wiedervereinigung beigetragen oder eben jetzt die massenhafte Zuwanderung. Wenn wir solche Herausforderungen annehmen und bestehen, gibt das Selbstvertrauen und Zuversicht.
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Könnten gerade die Zugewanderten diejenigen sein, die ein "Wir-Gefühl" in Deutschland auslösen?
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So ist es. Wenn die Integration gelingt, hat sich die deutsche Gesellschaft angesichts eines großen Problems bewährt, und das eint. Diejenigen, die grundsätzlich gegen Zuwanderung sind, sind nicht zukunftsfähig. Sie verhindern jede Erneuerung und jeden Fortschritt.
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Die Gegner der Zuwanderung warnen vor dem Verlust einer kulturellen Identität. Was ist damit gemeint?
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Vernünftig hat das noch keiner beantworten können. Wenn man damit Goethe oder Schiller meint, dann ist das keine nationale Inklusion, sondern ein bildungsbürgerliches Projekt. Auch über die Essgewohnheit lässt sich keine Nation machen, denn es mögen nicht alle Sauerkraut und Rippchen. Außerdem verändert sich die kulturelle Identität immer wieder. Nehmen Sie zum Beispiel die Überwindung der konfessionellen Differenzen. Heute ist es ohne Weiteres möglich, dass ein Protestant eine Katholikin heiratet. Das ist ein wesentliches Element bei der Modernisierung dieses Landes gewesen. Insofern kann ich eine kulturelle Identität nur im Grundgesetz sehen und darin, dass wir zu dessen Werten stehen.
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Jahrzehntelang hatten besonders junge Menschen in Deutschland ein Problem mit einem Bekenntnis zur Nation, weil dieser Begriff durch den Nationalsozialismus pervertiert wurde.
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In den 1950er- und 1960er-Jahren wollten viele angesichts der nationalsozialistischen Verbrechen lieber keine Deutschen sein. Hinzu kam, dass die Nation ohnehin politisch geteilt war. Das änderte sich erst mit der Wiedervereinigung, als es wieder eine Vorstellung davon gab, dass die Nation eine politische Gestalt als Staat bekommen hat. Ab da mussten die Deutschen wieder anfangen, sich zu definieren.
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Hat das geklappt? Oder wird unter der "deutschen Identität" in Ostdeutschland etwas anderes verstanden als in Westdeutschland?
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Das Problem war, dass die Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte in Westdeutschland eine ganz andere war als in Ostdeutschland. In der DDR sah man sich als "Sieger der Geschichte", der Nationalsozialismus wurde vor allem hinsichtlich der Dimension Kapitalismus versus Sozialismus behandelt, die Dimension des Rassismus blieb außen vor. Die intensive Beschäftigung mit dem Aufstieg der Nationalsozialisten und deren Verbrechen wurde in Westdeutschland hingegen zu so etwas wie der geschichtspolitischen Staatsräson und entsprechend in den Schulen unterrichtet. Das hat sich ausgezahlt, zum Beispiel in einer höheren Populismusresistenz. Man weiß, welche Folgen bestimmte Formen des Ausgrenzens und des Sichselbst- Erhöhens haben, während unsere Nachbarländer, weil sie ja nicht das Tätervolk waren, immer ein gutes Gewissen hatten. Das Wahlverhalten in Sachsen ähnelt also nicht ohne Grund eher dem in Polen als dem im Westen. Und nicht ohne Grund sind im Osten bei der Bestimmung von Identität viel eher ethnische Vorstellungen im Spiel als im Westen.
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Identifizieren sich nicht ohnehin viele Menschen in Deutschland eher mit den Regionen, aus denen sie kommen?
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Deutschland ist ja nie ein zentralistischer Staat gewesen, es hat eine föderalistische Tradition, die infolge der Vertreibungen nach 1945 ordentlich durchmischt wurde. Eine zweite intensive Durchmischung fand durch die soziale und regionale Mobilität statt. Ich lebe nicht mehr in meiner hessischen Heimat, sondern in Berlin. Aber ich habe immer noch die weiche Aussprache, die für den Oberhessen typisch ist. Insofern bin ich ein Hesse geblieben, aber nur zum Teil. Zum Teil bin ich Berliner geworden. Dass ich Deutscher bin, haben wir schon festgestellt. Und dann bin ich noch Europäer. Es gibt also gar nicht die eine Identität. Jetzt, wo Trump neuer Präsident der USA ist, werden sich viele Europäer wieder stärker als Europäer fühlen, und der Begriff des Westens wird an Bedeutsamkeit verlieren. Es ist ein permanenter Prozess, der auch von Situationen abhängt.
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Ist der Wunsch nach einer intakten Nation auch eine Reaktion auf eine komplexe Welt und die ausbleibenden Vorteile einer Globalisierung, wie sie oft versprochen wurden?
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Für Verlierer der Globalisierung ist die Nation gewissermaßen die Garantie der sozial-staatlichen Versorgung. Das heißt, sie tun das nicht einfach, weil sie die Nation so schätzen, sondern weil diese ihre Versicherung in schlechten Zeiten ist. Gerade in komplexen Situationen braucht man Mittel des Halts und der Vergewisserung. Deshalb können wir zurzeit die politische Sehnsucht nach einer kleinräumigeren und überschaubareren Welt beobachten. Das heißt: Man kann sich mehr Globalisierung zutrauen, je gewisser man seiner eigenen regionalen oder nationalen Identität ist. Die Bedeutung der Nation wird also nicht abnehmen, sondern zunehmen. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang jedoch, welchen Begriff von Nation wir zugrunde legen.
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Welchen sollte man Ihrer Meinung nach zugrunde legen?
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Eine Nation, die menschenfreundlich ist. Eine, die sich nicht durch Exklusion auszeichnet, sondern durch die Bereitschaft zur Inklusion. Eine, die dabei aber auch bereit ist, für gewisse Werte einzustehen. Und eine, die gut gemanagt ist – also ein Land, das dazu in der Lage ist, Wohlstand für seine Bürger bereitzustellen, und das nachhaltig. Wer ein Interesse daran hat, dass der Sozialstaat auch unter veränderten Rahmenbedingungen in Zukunft aufrechterhalten werden kann, der muss sich auch auf den Begriff der Nation einlassen.
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Warum?
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Die Bereitschaft, in ein System einzuzahlen mit dem Wissen, dass ich nie dieselbe Summe herausbekommen werde, macht unseren Sozialstaat aus. Die Bereitschaft, dies zu tun, ist auf der Grundlage einer erhöhten Zurechnung – "Das ist auch ein Deutscher" und nicht irgendwie die Welt – wesentlich höher. Man konnte das in der Vergangenheit beobachten. Die "alten" Bundesbürger waren im hohen Maße bereit, die neuen Bundesländer finanziell zu unterstützen. Aber als die Empfänger solcher Transfers nicht mehr Deutsche waren, sondern vermeintlich Griechen, war das deutlich anders. Es braucht also ein Gemeinschaftsgefühl, damit es mit der Solidarität klappt.
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fluter/Interview-Wolfgang-Engler-Ernst-Busch.txt
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Ist es sinnvoll, nach einem Wesenskern hinter den Rollen zu suchen, die wir in unserem Leben spielen?
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Das ist sozusagen die Königsfrage. Was ist der Mensch, wenn man mal alle sozialen Rollen, die er spielt, von ihm abzöge? Ist er dann überhaupt noch jemand? Meine Antwort wäre: Ja, aber das ist schwer zu fassen. Denn es stimmt ja, dass wir in all diesen Rollen nicht wirklich aufgehen. Wenn es gut geht, bin ich der Spiritus Rector meines Rollenspiels.
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Sind wir alle nur Selbstdarsteller?
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Es bleibt immer eine Inszenierung. Und die Idee, alle Masken abzureißen und alle Inszenierungen abzuschaffen, um das wahre Selbst zum Vorschein zu bringen, ist eine komplette Illusion.
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Kann man als Schauspieler eine Rolle nur gut verkörpern, wenn sie auch einen persönlichen Bezug zu einem hat?
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Jemand, der mit 23 Jahren Schauspieler werden will, hat ja meist keine Ahnung, wie es als Junkie oder Obdachloser ist – oder auch als König oder Königin. Also geht es um die Fähigkeit, sich dem, was ich nicht bin, zu nähern; durch Beobachtung oder durch Nachahmung. Gerade das macht ja Lust auf das Spiel. Warum spielen Menschen, und warum spielen Kinder? Natürlich nicht, weil sie etwas schon sind. Sondern weil sie in einer Situation sind, wo sie gucken und testen: Was machen die anderen? Einen persönlichen Bezug braucht es also nicht unbedingt. Aber um etwa in die Rolle des Obdachlosen zu schlüpfen, kann es hilfreich sein, in seiner eigenen Biografie zu schauen: Welche Demütigungserfahrungen habe ich selbst mal gemacht?
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Wäre es nicht tatsächlich glaubwürdiger, wenn ein echter Obdachloser einen Obdachlosen spielen würde?
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Man kann den Kern dieses Themas, das politisch und wirklich ernst zu nehmen ist, an der Blackfacing-Debatte festmachen. Ist es okay, wenn ein weißer Schauspieler Othello spielt, obwohl es doch genug schwarze Schauspieler gibt? Man kann auch fragen: Wer hat das Recht, auf der Bühne zu stehen und eine Rolle zu spielen, ohne dass er anderen das Recht wegnimmt, für sich selbst zu reden? Darf ein Mann eine Frau spielen? Weiß ein Mann jemals, wie eine Frau wirklich ist? Kann ein Schauspieler, der aus der Mittelschicht kommt – so wie fast alle, die hier studieren –, einen Arbeitslosen spielen? Wäre es nicht viel besser, wir lassen den ganzen Quatsch und casten einfach Leute auf der Straße? Gehen zum Bahnhof Zoo, sprechen einen Obdachlosen an und fragen, ob er gegen ein kleines Handgeld sich selber spielen würde.
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Kommt die Fähigkeit, in die Rolle eines anderen hineinzuschlüpfen, der Gesellschaft als Ganzem zugute?
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Das ist eine Fähigkeit, die soziale Fantasie fördert. Man versteht, wie die anderen leben. Wenn jeder nur noch er selbst sein darf, schränkt das die Möglichkeiten unerhört ein – auch die Möglichkeit der Empathie: mal zu erfahren, wie es sich anfühlt, ein anderer zu sein.
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Die Frage nach der kulturellen Aneignung gibt es nicht nur im Theater. Derzeit gibt es eineDiskussion, ob weiße Menschen Dreadlocks tragen dürfenoder ob das eine Banalisierung der Leidensgeschichte afrikanischer Sklaven ist.
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An den US-amerikanischen Universitäten ist diese Art von Empfindlichkeit besonders ausgeprägt: Ich möchte nicht, dass mein Professor mir einen Text vorlegt, der meine ethnische Identität oder meine Gender-Identität verletzt. Und wenn der das macht, dann gehe ich raus. Es gab den Fall, dass Studenten aus der weißen Mittelschicht das Recht abgesprochen wurde, asiatisches Essen zu kochen, weil sie sich damit etwas anmaßen. Das ist ein seltsamer Besitzanspruch: Ich besitze meine Herkunft, und die lasse ich mir auch nicht wegnehmen. Du ziehst dich nicht so an, du sprichst nicht so und du kochst nicht so – das bin ich! Stellen Sie sich vor, das machen jetzt alle so. Dann dürfte auch ein Sachse, der nach Stuttgart gezogen ist, nicht mehr versuchen, ein bisschen wie die Schwaben zu werden. Dann ziehe ich als Schwabe gleich mal vor Gericht und klage an, dass der meine kulturelle Identität nur kopiert.
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Aber ist es nicht legitim, mit kulturellen Formen von Völkern, die wir als Europäer uns ehemals unterworfen haben, ein bisschen behutsamer umzugehen?
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Ich sehe das anders, für mich ist das eine Fortsetzung der kulturellen Herablassung mit anderen, scheinbar zivilisatorisch-emanzipatorischen Mitteln und Rhetoriken. Nichts anderes.
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"Erkenne dich selbst" lautet eine Inschrift am Eingang des Apollontempels in Delphi. Heute heißt es in der Werbung oft: "Sei ganz du selbst". Die Forderung nach Authentizität ist anscheinend sehr alt.
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Sie hat über die Jahrhunderte und sogar Jahrtausende hinweg sehr verschiedene Antworten hervorgebracht. Eine Antwort war zum Beispiel: Ich bin ich selbst, wenn ich natürlich bin. Das heißt in der Konsequenz: Der Mensch ist am authentischsten, wenn seine Selbststeuerung zusammenbricht. Wenn er Unruhe zeigt, wenn seine Augen flattern, der Kehlkopf. Dann glaubt man: Jetzt ist der Mensch wirklich da, bis dahin hatte er sich verstellt.
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Im Job wird erwartet, dass man sich ganz mit seiner Tätigkeit identifiziert und darin aufgeht. Warum ist die Forderung, man selbst zu sein, heute so massiv?
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Bis vor 100 Jahren haben sich Unternehmen damit begnügt, dass ihnen Menschen ihre Fähigkeiten zur Verfügung stellen. Irgendwann schien das nicht mehr zu reichen, und es wurde erwartet, dass die Menschen den Firmen auch ihre Persönlichkeit zur Verfügung stellen.
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Klingt anstrengend.
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Nehmen wir mal die schöne alte Arbeitswelt des klassischen Angestellten. Der kommt morgens, macht seine Arbeit, dann schaut er auf die Uhr: 17 Uhr. Der Stift fällt nieder, und das donnernde Leben beginnt. Zwischen dem Eigenen und dem Fremden zu unterscheiden, also zu sagen: Das ist mein Leben, und das ist das Leben fürs Unternehmen, das hat natürlich etwas Befreiendes. Der heutige Angestellte fragt sich ja auch am Feierabend immer noch, ob er sich gerade Skills aneignet, die ihm mal nutzen könnten. Ist es gut für die Arbeit, dieses Buch zu lesen, ins Theater zu gehen, diese Freunde zu treffen? Die Unterscheidung wird immer schwerer: Wo ist eigentlich der Raum, der nur mir gehört?
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Woher kommen diese Gedanken?
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Die neue Art der Unternehmenssteuerung, wie sie auch im Silicon Valley vorgelebt wird, heißt: Entfremdung verboten. Du darfst dich in einem Beruf nicht mehr fremd fühlen, du musst du selber sein. Auch sonst wird viel Identitäts-Fastfood angeboten. In Form von Werbung, die mir verspricht, dass ich durch einen millionenfach produzierten Turnschuh ganz ich selbst werden könnte, in Form von Ratgeberliteratur, die mir sagt, was ich tun muss, um ganz ich selbst zu werden.
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Es gibt in einer Zeit der Selfies und derOptimierung durch Wellnessviel Beschäftigung mit sich selber. Leidet darunter die Initiative, die Gesellschaft als Ganzes positiv weiterzuentwickeln?
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Der Aufwand, den man mit dem Bild und dem Entwurf von sich treibt, die Leidenschaft und die Zeit, die investiert werden, sind schon auffallend. Ich denke, dass sich da etwas staut, das ebenso gut der Weltveränderung zugutekommen könnte. Aber die Welt wirkt so schwierig und so komplex und scheint auch von selber zu laufen – da ist die Beschäftigung mit sich selbst ein bequemer Ausweg. In den späten 1960er- Jahren war das ganz anders: Da war mein Authentischsein eigentlich nur vor dem Hintergrund möglich, dass die Welt eine andere wird. Ich konnte in dieser als falsch betrachteten Welt gar kein Richtiger sein. Also musste ich mich mit anderen zusammentun, um gemeinsam das große Ganze zu verändern, damit man überhaupt dieses Ideal – sei du! – erreichen konnte. Wenn ich aber nicht mehr daran glaube, dass ich die falsche Welt zum Besseren ändern kann, dann fließen diese Energien in mein Projekt der Selbstveränderung. Hier bin ich, hier ist mein Entwurf, hier ist mein Fake.
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Viele Menschen haben das Gefühl, dass die Welt zu komplex ist.
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Komplexität ist heute eine der ganz großen Legitimationsformen. Das ist zu komplex! Wer sagt das heute nicht alles! Aber ich glaube, dass das eine Fehlwahrnehmung ist. Oft kann man ganz klar Ross und Reiter benennen – etwa in der Finanz- oder der Flüchtlingskrise. Der Widerspruch zwischen dem, wie wichtig wir unser Ich nehmen und wie sehr sich dieses Ich andererseits degradiert, wenn es um die vermeintlich zu komplexen Verhältnisse geht, ist schon erstaunlich.
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Viele YouTuber reden zu einem großen Teil darüber, wie sie selbst die Welt sehen.
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Dieser enorme Aufwand, den die Leute heute mit ihrer Selbstformung und Selbstgestaltung treiben, ist Rückstau sozialer Problematiken, die wir uns nicht mehr trauen anzupacken. Es geht nicht darum, das zu moralisieren. Aber es sind Phänomene, die einfach nicht zusammenpassen und wo die Widersprüche die Leute selber durchziehen. Mal schauen, wo das hinführen wird.
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Ist es nicht erst mal etwas Gutes, dass die Leute heute eine Ich-Stärke entwickeln?
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Die Frage, wer bin ich, wer möchte ich sein, und welche Fähigkeiten habe ich, von dem, der ich bin, zu dem zu werden, der ich sein möchte – das waren lange Zeit Themen und Fragen, mit denen sich zu beschäftigen ein Privileg der Eliten war. Es darf aber nicht ausufern. Was heute Authentizität heißt, hätte man früher Narzissmus genannt. Ich kippe den anderen mein Sosein vor die Füße und unterwerfe mich weder Konventionen noch Rollenklischees. Und morgen bin ich vielleicht schon wieder ganz anders.
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Schaut man sich die Hassreden im Netz an, hat man den Eindruck, dass viele Menschen durch Hass in ihrer Identität zusammengehalten werden.
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Was gar nicht so selten passiert, ist, dass Menschen aus der Not eine Tugend machen. Dass sie ihr Leben mit all den negativen Erfahrungen, um darunter nicht begraben zu werden, zu einer überlegenen Existenz aufplustern. Sie finden dann einen Grund, auf die, die eigentlich auf sie herabschauen, ihrerseits herabzuschauen.
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Der wütende Mob, der auf Pegida-Veranstaltungen und auch am Rande der Feierlichkeiten zur deutschen Einheit in Erscheinung getreten ist, kann sich mit der Mehrheitsgesellschaft jedenfalls nicht mehr identifizieren.
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Das scheint auf einen wachsenden Teil der europäischen Gesellschaften zuzutreffen, etwa auch auf Frankreich, auf Österreich, auf die Schweiz und auch auf skandinavische Länder. Überall dort fühlen sich viele Menschen offenbar durch das System der politischen Repräsentation – zu der ich weiter gefasst auch die Medien und die veröffentlichte Meinung zählen möchte – nicht mehr repräsentiert. Das stimmt für die nicht mehr, das trifft sie nicht. Und was macht man dann? Dann gibt es verschiedene Möglichkeiten. Man kann sich selber organisieren, um denen zu zeigen, was man von ihnen hält, nämlich gar nichts mehr. Man kann regelmäßig aus der Haut fahren.
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Was wäre denn der richtige Weg, zu sich selbst zu finden?
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Sich davon frei zu machen, wäre schon mal toll, das wäre ein Anfang. Einfach mal zu fragen: Kann ich nicht mal nicht ich sein? Es gibt eine Definition für Authentizität, die meines Erachtens eine recht hohe Gültigkeit beanspruchen kann: Das ist Aufrichtigkeit sich selbst gegenüber. Wo stehe ich, wer bin ich, wo will ich sein? Und wenn da Unstimmigkeiten sind, dann versuche ich vielleicht, die in eine größere Harmonie zu bringen. Ich denke, man muss mit manchen seiner Gegebenheiten einfach Frieden schließen. Ich bin so, so sehe ich aus, diese und jene Fähigkeiten habe ich, andere habe ich eben nicht. Dies sind meine Stärken, dies sind meine Schwächen. Wenn man das erkennen kann, ist man aus dem permanenten Druck der Selbstoptimierung raus.
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Lieber Herr Wolff, geboren im Berlin der 20er-Jahre, wurden Sie in England nach der Flucht vor den Nazis zum Politikjournalisten. Mit über 50 Jahren ließen Sie sich dann zum Rabbiner ausbilden und arbeiteten zuletzt in jüdischen Gemeinden in Schwerin und Rostock. Wie kommt es, dass Sie sich immer wieder neu erfinden?
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William Wolff: Ich habe mich niemals neu erfunden. Ich musste dieses Land verlassen, sonst wäre ich in Auschwitz gelandet. Das verstehen Sie, oder?
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Natürlich. Aber es ist ja schon ungewöhnlich, von der Millionenstadt London in die ostdeutsche Provinz zu wechseln – und vom Journalismus zum Rabbinertum. Wollten Sie denn schon immer Rabbi werden?
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Ich weiß noch, wie wir in der Schule Berufsberatung hatten. Ich war 16 Jahre alt. Da habe ich gesagt, ich möchte entweder Journalist oder Rabbiner werden.
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Mit 90 noch auf der Überholspur unterwegs – also mit 90 Jahren, nicht Stundenkilometern. Rabbi Wolff lebt zwischen drei Orten, fährt damit aber gut
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Und dann haben sie 30 Jahre das eine und über 30 Jahre lang das andere gemacht. "Wenn irgendwas im Leben keinen Spaß mehr macht, dann habe ich immer dafür gesorgt, dass ich gewechselt habe", erzählen Sie im Film "Rabbi Wolff". Ist das Ihr Rat an Menschen, die Angst vor Veränderungen haben?
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Einen allgemeinen Rat zum Thema Veränderung kann ich nicht geben, denn das hängt immer von den Umständen ab. Ich zum Beispiel konnte mein Leben ändern und damit auch ein finanzielles Risiko eingehen, weil ich keine Familie hatte.
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Sie essen kein Fleisch und machen regelmäßig Yoga – gerade so als wären Sie ein hipper Großstadtbewohner. Den Wandel zum Handy haben Sie aber nicht mitgemacht. Warum?
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Ich habe mich mit der Handykultur einfach nicht angefreundet. Zu Hause in England habe ich zur Sicherheit eines im Auto – immer geladen, falls ich mal eine Panne habe und jemanden rufen muss. Aber zu Hause? Da habe ich doch in jedem Zimmer ein Festnetztelefon. Und hier in Schwerin bin ich meistens im Büro, da kann man ja einfach reinkommen, wenn man mit mir sprechen will …
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Warum sind Sie denn 2002 überhaupt hierhergekommen – war das nicht schwer für Sie, sich wieder Deutschland zuzuwenden?
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Am 10. November 1989 wurde mir plötzlich klar, wie viel mir meine deutsche Herkunft bedeutet. Ich war damals in Nordengland unterwegs, um einen Freitagabendgottesdienst zu führen, und im Autoradio kamen die ersten detaillierten Nachrichten über den Durchbruch der Mauer in Berlin. Wie ich das hörte, kamen mir die Tränen! Und ich habe dann in meinem Gottesdienst sofort ein Dankesgebet gesagt, und das war auch ein Gebet für das Deutschland, das in diesem Moment neu geboren wurde.
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Wie ist denn in Ihren Augen die Situation für Juden in Deutschland im Moment? Haben Juden und der Rest der Gesellschaft wieder zueinandergefunden?
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Unsere jungen Leute gehen auf die Schulen und Hochschulen wie alle anderen und sind völlig integriert. Die Integration geht hauptsächlich über die Arbeit. Wenn sie aber keine Arbeit haben, leben sie eher unter sich. Dazu kommt, dass das Fernsehen, das sie sich abends anschauen, aus Russland kommt – und das macht die Integration schwieriger. Wenn sie Arbeit haben, dann integrieren sie sich aber schnell.
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Sie selbst haben mit Mitte siebzig noch mal ihr Russisch aufgefrischt, weil die meisten Gemeindemitglieder in Schwerin und Rostock Russisch sprechen.
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Ja, ich bin jeden Donnerstag in eine Russischstunde gegangen. Hier in Schwerin schreibe ich meine Predigten auf Deutsch, sie werden dann übersetzt, und ich lese sie im Gottesdienst auf Russisch vor. In Rostock halte ich die Reden auf Deutsch, weil da auch Deutschsprachige in die Gemeinde kommen. Das wird dann auf Russisch übersetzt.
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Veränderungen hat er zu Genüge erlebt. Aber was er vermisst, ist eine eigene Familie mit Kindern, sagt Wolff
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Wie steht es denn um die jüdische Identität hier in Schwerin? War es nicht schwierig für Sie, als liberaler Rabbiner in einer eher orthodoxen Gemeinde zu arbeiten?
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Nein, das war kein Problem. In England gelte ich als liberaler Rabbiner, und als ich herkam, wurde ich gefragt: Also, was sind wir denn jetzt: Sind wir liberal oder sind wir konservativ – oder was sind wir? Und ich habe gesagt: Wir brauchen uns kein Etikett aufkleben (haut auf den Tisch) – wir sind die einzige jüdische Gemeinde in Schwerin. Punkt. Ich wollte, als ich kam, dass Männer und Frauen zusammensitzen. Aber die Gemeinde meinte, man hätte sich an die Trennung gewöhnt und ich solle das bitte so lassen. Männer und Frauen sitzen also getrennt, aber es ist kein Vorhang da, und wenn's mal sehr voll ist, dann sitzen sie in den hinteren Bereichen der Synagoge auch zusammen. Streng orthodox sind wir also nicht, und wir hatten auch einen gemischten Chor.
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Bedauern Sie es, dass immer weniger Menschen religiös sind?
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Na ja, als religiöser Mensch kann ich das nur bedauern, und ich finde, das macht das Leben der Menschen geistig und kulturell ärmer. Religion war und ist Teil der westlichen Kultur.
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Auch der Islam ist Teil Europas. Bereitet Ihnen die Stimmungsmache gegen Muslime und der Aufstieg rechter Parteien in Europa und anderswo Sorge?
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Jede Diskriminierung macht mir Sorge. Aber man muss auch sehen: Bei der letzten Wahl in Deutschland hat die AfD 4,7 Prozent der abgegebenen Stimmen bekommen. Das bedeutet auch, dass 95,3 Prozent der Wähler nicht für diese Partei gestimmt haben. Und das ist die überwältigende Mehrheit. Das genügt mir. Ich glaube auf jeden Fall nicht, dass wir die Gefahr haben, dass sich die Ereignisse der 1940er-Jahre noch einmal wiederholen.
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Sie selber gehen ja ganz offen auf andere Religionen zu – gerade haben Sie in Wismar einen evangelischen Gottesdienst besucht.
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Ja, ich habe mit dem protestantischen Kollegen sozusagen zusammen eine Predigt gehalten. Diese Zusammenarbeit, das Brückenbauen ist mir persönlich ungeheuer wichtig. Das Brückenbauen ist eine Verpflichtung.
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Nicht gebaut, sondern abgerissen werden mit dem Brexit wohl einige Brücken zwischen Großbritannien und der EU. Was sagen Sie dazu?
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Es gibt im Englischen einen schönen Ausdruck, der besagt, dass man sich mit einer Aktion in den eigenen Fuß schießt. Mit dem Brexit haben sich die Briten leider in beide Füße geschossen.
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Bei einem 90-Jährigen türmen sich viele Erinnerungen auf. Dennoch ist Rabbi Wolff mit seinen Gedanken ganz im Hier und Jetzt und interessiert sich fürs aktuelle politische Geschehen
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Haben sich Ihr Blick auf die Politik und Ihre politische Einstellung im Laufe des Lebens geändert?
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Ich nehme es an. Aber als Rabbiner bin ich mir bewusst, dass ich mich nicht in Politik einmischen darf, und das tue ich auch nicht. Zur israelischen Siedlungspolitik etwa äußere ich mich nicht, und ich bin auch keiner, der in Predigten über Nahost-Politik spricht. Aber Meinungen habe ich sehr starke.
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Noch eine große Frage zum Schluss: Würden Sie etwas anders machen, wenn Sie heute noch einmal jung wären?
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Ja, auf alle Fälle! Ich habe ein großes Bedauern, und zwar dass ich nie geheiratet und meine eigene Familie gegründet habe. Ich habe mich aber immer wieder um die Tochter von sehr guten Freunden gekümmert. Mit ihr und ihren Kindern bleibt eine enge Beziehung, und das ist für mich eine große Bereicherung.
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Sie feiern im Februar Ihren 90. Geburtstag und sind immer noch ständig auf Achse. Sehnen Sie sich nicht manchmal nach etwas Ruhe?
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Nein, nie! Mir würde höchst langweilig sein. (lacht)
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Anm. d. Red.: Im Juli 2020, fast drei Jahre nach diesem Interview, ist William Wolff in seiner englischen Heimat gestorben. Er wurde 93.
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Titelbild: Katja Hoffmann/laif
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Nichtwissen, Unwissen, Ignoranz – wie unterscheiden sich diese Begriffe?
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Die Wörter Unwissen und Ignoranz sind im Deutschen – übrigens im Gegensatz zum englischen ignorance – ganz klar negativ konnotiert. Sie beinhalten das aktive Ausklammern von Wissen, das man hätte haben können und das für eine Entscheidung wichtig gewesen wäre. Bei dem Wort Unwissen schwingt auch noch ein Hauch von "Dummheit" mit. Wenn wir in der Forschung von der Abwesenheit von Wissen sprechen, verwenden wir das Wort Nichtwissen. Das ist neutraler.
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Alles mitkriegen geht nicht, irgendwo muss man mal einen Schnitt machen – aber wo?
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Ob Brexit oder die Wahl von Trump zum US-Präsidenten – in letzter Zeit hört man oft die These, dass Menschen über wichtige Hintergründe einer Entscheidung gar nichts wissen wollen. Welche Rolle spielt willentliches Nichtwissen, wenn es um demokratisches Handeln geht?
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Eine sehr große. In politischen Entscheidungsprozessen gibt es viele Dinge, die Menschen zu hören leid sind und deshalb nicht weiterverfolgen. Und dann gibt es noch Wissensbestände, die sehr strategisch ausgeklammert werden.
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Zum Beispiel?
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Das ist dann oft der Fall, wenn Wissen in Konflikt mit dem eigenen Verhalten steht: wenn es um Konsum oder Umwelt geht.
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Sprich, wer gern und viel Auto fährt, klammert womöglich gezielt Erkenntnisse über den Klimawandel aus?
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Zum Beispiel. Was man aber im Hinterkopf behalten sollte: Wenn ich etwa wissen will, ob der Klimawandel menschengemacht ist oder nicht, muss ich als jemand, der nicht gerade Atmosphärenphysik studiert hat, verlässliche Informationen von Leuten holen, denen ich vertraue. Mit der Sache selbst – dem Klimawandel – hat das erst mal wenig zu tun.
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Aber man kann doch gezielt nach Beiträgen suchen, in denen verlässliche Experten zu Wort kommen.
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Das würde man erwarten. Häufig ist es aber so, dass man sich auf Personen verlässt, denen man eine richtige Einschätzung "halt einfach zutraut" – weil sie sich in anderen Dingen als kompetent erwiesen haben oder weil sie über sekundäre Merkmale wie Charisma, schöne Haare oder was auch immer verfügen. Auch wenn dieses Verhalten je nach Neigung, Bildung etc. unterschiedlich stark ausgeprägt sein kann – grundsätzlich trifft es auf uns alle zu. Man muss das aber auch mal neutral betrachten: Über komplexe Dinge wie die Wahlen in den USA oder die Flüchtlingskrise können wir gar nicht alle Informationen einholen. Eine gewisse Vorauswahl müssen wir vornehmen, um Entscheidungen überhaupt treffen zu können.
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Wann wird das gefährlich?
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Wir leben in einer Zeit der widersprüchlichen Gewissheiten. Egal um welche Lebensbereiche es geht: Wir werden überwälzt von Informationen. Ganz profan: Ich renoviere gerade meinen Keller und recherchiere, wie man am besten verputzt. Aus dem Internet, in verschiedenen Baumärkten und von meinem Nachbarn bekomme ich unterschiedlichste Informationen. Soll ich jetzt dem Fachmann vertrauen, der Erfahrung eines Freundes oder dem Wissen möglichst vieler Menschen? Dieses Problem gibt es in allen Bereichen. Was die Politik betrifft, gibt es oft keine andere Möglichkeit, sich zu informieren, als über die Massenmedien. Viele Leute sind diesen gegenüber aber sehr skeptisch. Gefährlich wird es dann, wenn Menschen aus Unsicherheit heraus Heuristiken entwickeln, subjektive Raster, mit denen sie das herausfiltern, was sie als wahr erachten.
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Mut zur Wissenslücke: Man kann nicht erst Atmosphärenphysik studieren, bevor man sich über den Klimawandel eine Meinung bildet
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... und alles andere ignorieren.
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Genau. Wer sich einmal auf ein Weltbild festgelegt hat, klammert Dinge, die diesem widersprechen, leicht aus. Seine Meinung zu ändern, wenn man Neues erfährt, ist dann schwierig. Ein Strang der Nichtwissensforschung sieht sich an, wie diese Dynamik funktioniert und wo es mögliche Einfallszonen gibt, um damit konstruktiv umzugehen. Wenn zum Beispiel ein neuer Lebensabschnitt beginnt, ein Studium zu Ende geht oder eine Heirat ansteht, sind wir generell aufgeschlossener für Veränderung. Deshalb kann es sinnvoll sein, gerade in solchen Phasen entsprechende Angebote zu schaffen, etwa finanzielle Anreize, um vom Auto auf öffentliche Verkehrsmittel umzusteigen.
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Wächst das Nichtwissen in der Bevölkerung?
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Das ist eine viel diskutierte Frage, die man auf einem Stammtischniveau vielleicht bejahen mag. Ich sehe aber keinen empirischen Hinweis darauf. In den Fünfzigern war die Bevölkerung in ganz vielen Bereichen viel unwissender als heute. Damals dachten zum Beispiel viele, Rauchen wäre gesund. Es besteht immer eine Symmetrie: Je mehr wir wissen, desto mehr sind wir uns dessen bewusst, was wir noch nicht wissen. Zumindest sollte das so sein: Manche Menschen glauben leider, ausgelernt zu haben, nur weil sie über irgendeine Sache einen Artikel gelesen haben.
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Ist das der Grund, warum Populisten mit zum Teil konspirativen Theorien so viel Gehör finden?
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Auch wenn du das jetzt vielleicht gar nicht wissen möchtest: Matthias Groß ist Professor für Umweltsoziologie am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Leipzig und am Institut für Soziologie der Universität Jena. Neben Wissen und Nichtwissen gehören zu seinen Forschungsschwerpunkten unter anderem experimentelle Praktiken in Wissenschaft und Gesellschaft
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Verschwörungstheorien, egal welcher politischen Couleur, sind momentan vor allem deshalb so erfolgreich, weil sie die Welt vereinfachen. Sie teilen Menschen in Gut und Böse, behaupten, dass es irgendwo eine böse Macht gibt, die uns an der Nase herumführt.
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Einige Medien halten mit "Fact Checks" dagegen, zum Beispiel als Reaktion auf Falschaussagen in TV-Duellen oder Tweets. Kann man damit an festgefahrenen Meinungen rütteln?
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Denkbar ist das. Manche von uns sind aber auch schon abgestumpft, was das angeht. Gerade in den US-amerikanischen Präsidentschaftswahlkämpfen erwartet man direkt, dass kurz vor den Wahlen noch dieses oder jenes aufgedeckt wird, um einen bestimmten Teil der Wählerschaft in eine Richtung zu lenken – manche schmunzeln nur noch, wenn im Fernsehen "Fact Checks" kommen. Andere wiederum vermuten, dass hinter jeder Enthüllung eine Verschwörung steckt: böse Absichten von Journalisten oder irgendwelcher Lobbygruppen. "Fact Checks" erreichen also leider nicht immer das beabsichtigte Ziel.
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Gibt es Lebensbereiche, in denen man auch mal auf seinem Nichtwissen beharren darf?
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Ganz sicher sogar. In der pränatalen Gendiagnostik zum Beispiel gibt es für die werdenden Eltern ein Recht auf Nichtwissen, ein Recht darauf, ihr Kind nicht auf mögliche Krankheiten testen zu lassen. Ebenso, wenn es um das eigene Erbgut geht: Was hat man davon, mit 25 Jahren zu erfahren, dass man im Alter von 50 an einer obskuren Krankheit sterben könnte, für die es gar keine Vorsorge- oder gar Heilungsmöglichkeit gibt? Aber das ist ein sehr schwieriges Thema, weil wir in der modernen Gesellschaft natürlich denken, dass mehr Wissen immer eine Verbesserung bedeutet.
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Apropos moderne Gesellschaft: Die spezialisiert sich ja immer weiter – und mit ihr das Wissen. Sehen Sie darin eine Gefahr?
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Im Sinne einer produktiven Arbeitsteilung ist das einfach notwendig. Eine Ausdifferenzierung von Expertisen kann aber auch ein Hinweis darauf sein, dass Ungleichheit wächst. Die zunehmende Komplexität der technisierten Gesellschaft führt dazu, dass wir immer mehr auf das Wissen anderer vertrauen müssen. Spezialisierung darf man deshalb auf keinen Fall mit Transparenz verwechseln: Gerade im Bereich der Politik muss Wissen so dargestellt werden, dass es für jeden verständlich ist.
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Wer noch mehr über das Nichtwissen wissen will:Hier gibt es die Eröffnungsrede nachzugucken, die Matthias Groß bei der Konferenz "Ingorance: The Power of Non-Knowledge" vergangenen Herbst in Berlin gehalten hat (ab Minute 13:00)
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Fotos: Jan Q. Maschinski
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fluter/Jarett-Kobek-Ich-hasse-dieses-Internet.txt
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Jarett Kobek: "Ich hasse dieses Internet". S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2016, 368 Seiten, 20 Euro
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Es ist einerseits die Dreistigkeit der Konzerne, jedes Bit Daten ohne Bezahlung zu verwerten, und andererseits die Naivität der User, die Marketinglügen zu glauben, die Kobek in eine wunderbar produktive Weißglut treiben. "Das Internet war eine wunderbare Erfindung", schreibt er. "Es war ein Computer-Netzwerk, über das Menschen andere Menschen daran erinnern konnten, dass sie nur ein Stück Scheiße waren."
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Wer es mit Zwinkersmileys hält, wird diesen kraftstrotzenden Sarkasmus nicht mögen, für die anderen ist das Buch trotz weitgehender Abwesenheit einer sinnvollen Handlung ein rauschhaftes Vergnügen. Es gibt zwar eine Art Plot, bei dem es unter anderem um eine junge Frau geht, die durch unbedachte Tweets über Beyoncé eine Flut vulgärer Beschimpfungen auslöst – aber diese und ähnliche Geschichten sind nur ein grobes Gerüst, auf das Kobek steigen kann, um der Riesenblase Silicon Valley die Luft rauszulassen.
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Dabei beherrscht Kobek nicht nur den Holzhammer, er schafft es auch durch ganz einfache Stilmittel, Zweifel an der schönen neuen Welt zu säen. So schreibt er über gegenwärtige Phänomene und deren Erfinder grundsätzlich in der Vergangenheitsform. "Google verdiente Geld an Diskussionen darüber, ob Präsident Obama in der Hölle Schwänze lutschte."
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Ein sehr schöner Einfall ist auch, dass Kobek immer wieder auf der Dominanz weißer Männer in der IT-Branche herumreitet, indem er stets akribisch vermerkt, wer "kein Eumelanin in der Basalschicht seiner Epidermis" hat. Dave Eggers mag mit "The Circle" einen sehr korrekten Roman über das orwellhafte Innenleben von Google geschrieben haben. Aber Jarett Kobek hat mit diesen 360 Seiten gut gelaunten Hasses das weitaus eindrucksvollere Buch abgeliefert. Einen Verlag dafür hat er in den USA trotz monatelanger Suche nicht gefunden, so dass er es schließlich im Selbstverlag veröffentlicht hat.
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Jeder Kunde hat andere Stärken und Botschaften, deswegen ist kein Training wie das andere. Wir trainieren die realen Situationen, in denen es für die Kunden wichtig ist, erfolgreich zu sein. So führen wir zum Beispiel ein Stressinterview und nehmen die Situation mit einer Kamera auf. Gemeinsam analysieren wir das Video und trainieren anschließend die Optimierungen. Wichtig ist, dass wir Situationen durchspielen, die sehr nah an der Lebenssituation des Kunden sind. So kann der Trainierte die positiven Erlebnisse aus der Übung im Ernstfall reproduzieren.
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Weil meine Auftraggeber nicht alle in Berlin sitzen, bin ich beruflich viel unterwegs, vorwiegend in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Wenn ich für Inhouse-Seminare, Workshops, Auftritte als Keynote-Speaker zu Themen wie Präsentation und Rhetorik oder als Moderator gebucht werde, reise ich auch meistens an. Zum Glück kommen viele meiner Kunden zum Einzeltraining zu mir nach Berlin. Das hat auch Vorteile für das Training. Wenn die Unternehmenszentrale weit weg ist, sind die Kunden bei unserer Arbeit meistens offener und fokussierter.
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Wie werde ich das?Die Berufsbezeichnung Coach ist nicht geschützt. Coach kann sich also jeder nennen, und Ausbildungsangebote und Seminare gibt es viele. Direkt nach dem Studium in Richtung Coach zu denken wird nicht empfohlen. Wer Berufs- und Lebenserfahrung zu bieten hat, wird von Kunden und Kollegen eher ernst genommen. Empfehlenswert ist beispielsweise Berufserfahrung im Journalismus, in der Öffentlichkeitsarbeit oder im Personalbereich. Trotz großer Nachfrage nach Coaching gibt es sehr viel Konkurrenz. Der Markt für Trainer, Coaches und Berater ist hart umkämpft. Neueinsteiger sollten sich klar positionieren und gut überlegen, was sie anbieten und wie sie arbeiten wollen.Orientierung über Ausbildungswege und Fragen zum Beruf bietet der Deutsche Bundesverband Coaching e.V. Viele Infos gibt es auch unter www.coaching-report.de.
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Was verdiene ich da?Die Honorare sind auf dem freien Markt sehr unterschiedlich. Ist ein Coach gut im Geschäft, kann er als Politikercoach bis zu 1.500 Euro am Tag verdienen. In der Wirtschaft liegen die Tagessätze etwa zwischen 800 und 2.000 Euro und höher, je nach Marktwert von Coach und Kunde, der empfohlene Stundensatz für Einzelcoachings liegt bei 150 Euro. Bedenken sollte ein Neueinsteiger, dass natürlich viel Zeit für Akquise, Vorgespräche sowie An- und Abreise draufgeht und ein selbstständiger Coach in der Regel nicht jeden Tag mit Kunden zu tun hat, sondern auch mit der Organisation des eigenen Büros. Großzügige Tages- oder Stundensätze müssen also nicht zu einem hohen Einkommen führen. Auch unter fest angestellten Coaches gibt es große Unterschiede. In der Regel liegen die Gehälter zwischen 3.000 und 6.000 Euro monatlich.
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Politisch bin ich überwiegend auf der Bundesebene unterwegs, unter meinen Kunden gibt es Minister und Abgeordnete. Namen und Parteien darf ich nicht nennen. Auf eine Partei bin ich nicht festgelegt. Solange die Inhalte mit meinen Werten übereinstimmen, komme ich nicht in persönliche Konflikte. Radikalen Parteien würde ich nicht zu einem besseren Auftritt verhelfen. Wenn ich Aufträge nicht mit meinem Gewissen vereinbaren kann, lehne ich sie ab, das gilt für Anfragen aus der Politik und der Wirtschaft. Selbstverständlich achte ich darauf, dass meine Kunden nicht in direkter Konkurrenz zueinander stehen. In der Politik bin ich nicht für jeden Kunden interessant. Da gibt es immer Leute, die nur Trainer mit Parteibuch beauftragen. Ich bin unabhängig und werde bestimmte Kunden nie bekommen. Aber für mich ist es besser, nur einige Politiker und Verbandsvertreter zu haben und zusätzlich Kunden aus der Wirtschaft. Die Mischung ist für mich interessanter.
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Einen klassischen Werdegang gibt es für einen Coach nicht. Welche Ausbildung für den Einzelnen sinnvoll ist, hängt davon ab, was er anbieten möchte. Ich konzentriere mich auf Medientraining, öffentliche Wirkung und Krisenmanagement. Deshalb sind meine journalistischen Erfahrungen wichtig. Ich habe für verschiedene investigative Formate gearbeitet und für ARD und ZDF zum Beispiel Angela Merkel und Horst Seehofer interviewt. Es gibt aber viele andere Möglichkeiten, sich als Coach zu positionieren, zum Beispiel in den Bereichen berufliche Neuorientierung, Teamkonflikte oder Selbstmanagement.
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Ich selbst bin sehr froh über meinen Berufswechsel. Für mich gab es damals mehrere Gründe, den Journalismus zu verlassen. Erstens habe ich als freier TV-Journalist zwar in der Champions League gespielt, wurde aber bezahlt wie in der Regionalliga. Ich bin damals als investigativer Journalist allein gegen die Rechtsabteilungen großer Unternehmen angetreten – wurde aber schlechter entlohnt als eine dortige Assistentin. Als junger Mensch war mir Geld nicht wichtig. Spätestens seitdem ich Kinder habe, möchte ich für meine Leistung angemessen bezahlt werden. Ein anderer Grund war der oft sehr raue und wenig wertschätzende Umgangston in vielen Redaktionen. Ich habe beschlossen, nur noch mit Menschen zusammenzuarbeiten, die sich gegenseitig respektieren. Das gelingt mir heute. Natürlich gibt es auch in meinem Beruf Dinge, die ich nicht so gerne mache. So versuche ich das meiste, was Steuern, Buchhaltung, IT oder Akquise betrifft, auszulagern. Ganz kann ich mich davon als Geschäftsführer leider nicht fernhalten. Aber viel lieber nutze ich meine Zeit, um mit meinen Kunden zu arbeiten.
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Politberufe, Teil 1 – Ich bin dann mal in der Politik. Franziska Gehrke ist Fachreferentin bei den Grünen im Bundestag
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Politberufe, Teil 2 – Bei einer NGO zu arbeiten, ist für viele ein Traumjob. Roman Ebener setzt sich bei abgeordnetenwatch.de für mehr Transparenz in der Politik ein
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